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Kulturkampf aus Hilflosigkeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Die Säkularisierung ist eine Erfindung Europas, und der westliche Wurmfortsatz der riesigen euroasiatischen Landmasse ist die bis dato einzige säkularisierte Weltregion unserer Zeit. Daran ändert auch die tiefe Verwurzelung der europäischen Kultur in christlichen Traditionen nichts, die bis heute die Stadtbilder und zum Teil noch einzelne Paragrafen prägen. Entscheidend bei dieser Trennung von Religion und Staat ist der Prozess der mentalen Abnabelung.

Aktuell hat die Religion uns wieder in ihren Bann gezogen. Und zwar nicht in jenem rein spirituellen Sinn, der für viele nach wie vor ihr persönliches Leben bereichert, sondern handfester. Die Rolle von Gott für unser Zusammenleben ist zurück auf der Agenda der Politik. Für europäische Intellektuelle ist das ein "Skandal", wie es der Philosoph Rudolf Burger kürzlich formulierte: "Wer in den 1970ern die Welt verstehen wollte, der musste das ‚Kapital‘ lesen. Heute muss man die ‚Hadithen‘ lesen, die Überlieferungen der Sprüche und Handlungen Mohammeds. Das finde ich beunruhigend."

Es ist dennoch unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung die Kraft hat, den Prozess der Säkularisierung zu stoppen geschweige denn diesen in die Gegenrichtung abzuwickeln. Weder wiederholt sich Geschichte noch lässt sie sich einfach zurückdrehen. Das heiß nicht, dass Erreichtes in Stein gemeißelt ist, aber sehr wohl, dass Vergangenes nicht wieder in gleicher Gestalt zurückkehrt.

Wenn auch in Europa die Religion wieder als politischer Faktor zurückkehrt, dann ist dies zuallererst das Ergebnis, wie sich Politik und Medien dieses Themas bemächtigen. In ihrer Hilflosigkeit, ihre Versprechen von einem besseren Leben in die Realität umzusetzen, haben die Parteien die Auseinandersetzung in die Arena der Identitätspolitik verlegt. Es ist ja auch tatsächlich leichter, jemandem zu erklären, wer er/sie ist oder jedenfalls sein soll, als unter den Bedingungen der Globalisierung die konkreten Probleme der Globalisierung zu lösen. Dann, so denken sich wohl aufwandorientierte Volksvertreter, schon lieber ein zünftiger Kulturkampf.

In einem treffen diese Politiker jedoch einen wunden Punkt unserer säkularisierten Welt: Zu viele und immer mehr Menschen fühlen sich verloren. Er gibt also einen boomenden Markt für Identitätspolitik dieser Art. Und Religion ist hier ein wirksames Mittel zum Zweck.