Regierungskräfte versuchen Provinzhauptstadt im Norden Afghanistans zurückzuerobern.
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Kunduz/Wien. Eilends hatte sich die ganze Provinzhauptstadt im Norden Afghanistans verbarrikadiert. "Kunduz ist eine Geisterstadt", berichtete ein Bewohner dem afghanischen Reporter Bilal Sarwary über die Lage in der Stadt Montagmittag. Und Fotos und Videos aus der Stadt, die über soziale Medien verbreitet wurden, bestätigten dies: Die Rollläden der Geschäfte waren geschlossen - und bis auf Taliban, die mit Kalaschnikows in der Hand die Straßen auf und ab liefen, waren tagsüber keine Menschen zu sehen. Seit den frühen Morgenstunden hatte die radikalislamische Gruppierung die Stadt von drei Seiten aus in die Zange genommen. Gegen Mittag hatten sie das Provinzratsgebäude eingenommen, wenig später das Gefängnis gestürmt und hunderte Insassen, darunter viele ihrer eigenen Kämpfer, befreit.
Der Verstärkung für die afghanischen Streitkräfte schnitten die Taliban den Weg noch vor der Stadt ab. In Kunduz selbst stürmten sie ein Krankenhaus, um nach verwundeten afghanischen Militärs oder Polizisten zu suchen. Wenig später plünderten sie mehrere Polizei- und Militärbasen sowie das örtliche UN-Büro und steckten Letzteres in Brand, genau so wie eine private, von Frauen betriebene Fernsehstation. Kurz darauf drehten sie Teilen der Stadt das Mobilfunknetz und den Strom ab und verhängten eine Ausgangssperre.
Augenzeugenberichten zufolge hielten die Kämpfe am Abend weiter an. Dennoch wagten sich einige Schaulustige auf den Hauptplatz der Stadt, auf dem sich Taliban in Polizei-Pick-ups fotografierten. "Die muslimische Bevölkerung von Kunduz heißt die Mudschaheddin herzlich willkommen", twitterte ein Taliban-Sprecher.
Am späten Abend schließlich musste der Sprecher des Innenministeriums, Sedik Sediqqi, eingestehen: "Kunduz ist unglücklicherweise an die Taliban gefallen." Somit ist die 300.000-Einwohner-Stadt die erste Provinzhauptstadt in Afghanistan seit der Vertreibung der Taliban von der Macht vor 14 Jahren, die wieder an diese fiel. Zudem mehrten sich die Gerüchte, auch Teile der angrenzen Provinzen Baghlan und Takhar stünden vor dem Fall.
Schon vor der Taliban-Offensive am Montag waren die Entwicklungen im Norden des Landes und vor allem in der Provinz Kunduz alarmierend. Mehrfach griffen die Aufständischen in diesem Jahr bereits die gleichnamige Provinzhauptstadt an. Im April warnte Vizegouverneur Hamdullah Daneshi erstmals vor einer Eroberung der gesamten Provinz durch die Taliban.
Bisher schafften es die afghanischen Sicherheitskräfte, wenn auch mit hohen Verlusten, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Behörden und Polizeisprecher gaben sich auch am Montag überzeugt, dass es gelingen werde, die Taliban-Kämpfer zurückzuschlagen. Die Bewohner erwarteten eine blutige Schlacht um die Stadt.
Heuer haben in der Provinz Kunduz laut UN-Angaben bereits 18.000 Familien um den Status von Binnenflüchtlingen angesucht. Die Behörden vor Ort können ihnen aber kaum Hilfe bieten. Die ständigen Angriffe seit dem Frühjahr verunmöglichen es ihnen, sich auf andere Bereiche außerhalb des Kampfes um die Sicherheit zu konzentrieren. Projekte in den Bereichen Gesundheitsfürsorge, Bildung, Landwirtschaft oder Wiederaufbau befänden sich in der Warteschleife, schreibt die Denkfabrik Afghanistan Analysts Network (AAN) in einem Bericht.
Gleichzeitig behindert laut AAN auch die Zusammensetzung der lokalen Regierung in Kunduz Fortschritte. Der paschtunische Gouverneur von Kunduz wurde vom paschtunischen Präsidenten Ashraf Ghani ernannt. Er komme aber mit dem tadschikischen Polizeichef nicht zurecht. Dieser wurde von Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah ernannt, um eine "lokale Balance" zu erreichen. Abdullah Abdullah führt das zweite Camp der seit einem Jahr im Amt befindlichen Einheitsregierung an.