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Wien. Tausende Menschen pilgern jährlich ins Musée du Louvre in Paris, um Leonardo da Vincis "Mona Lisa" zu sehen. Sie tun es nicht nur ihres Lächelns wegen. "Das Gemälde hält, was es verspricht: Es ist das berühmteste Bild der Welt", sagt Helmut Leder, Professor für Allgemeine Psychologie der Universität Wien: "Zudem ist es außergewöhnlich gemalt." Mit einer speziellen Technik legte Leonardo Leim-Schichten zwischen die Farbschichten, was Mona Lisas Haut ihren charakteristischen Perlmut-Effekt verleiht und Pinselstriche verschwinden lässt. Es ist zudem das erste Bild einer Frau - keine Göttin, sondern die Tochter eines Händlers. "Die Summe all dieser Faktoren löst ein positives Gefühl gleichermaßen bei Laien und Experten aus", erklärt Leder.
Das Wissen um das Bild
Der Psychologe mit Schwerpunkt Ästhetische Wahrnehmung erforscht, wie Menschen Bilder wahrnehmen und warum wir die Kunst offenbar mögen. Er betont: "Die Menschen würden nicht zu Tausenden in die Museen strömen, wenn sie daraus nicht positive Gefühle gewinnen würden." Allerdings würden sich Laien und Experten zumeist unterschiedlicher Qualitäten erfreuen.
So mache es Laien eher Spaß, schöne, erbauliche oder schön gemachte Dinge zu sehen - zumeist realistisch dargestellte und erkennbare Landschaften, Stillleben oder Porträts. Bei den Experten hingegen entsprängen die positiven Gefühle auch noch anderen Quellen: "Zum Beispiel könnte ich Glück empfinden, weil ich erkenne, dass es sich um ein besonders schönes Gemälde von Ferdinand Georg Waldmüller handelt, oder wenn ich mich all dessen entsinne, was ich über das Bild weiß", sagt Leder. Verständige würden sogar erkennen, welcher Künstler das Werk geschaffen hat, noch bevor ihnen der Name des Bildes einfällt oder sie sich dessen Betrachtung widmen.
Doch wie verhält es sich mit künstlerischen Aussagen, die nicht schön sind - etwa ein blutüberströmtes Tier von Hermann Nitsch, oder ein Haufen Holz oder Mist der Arte Povera? "Ein Laie würde vielleicht sagen: Das schaue ich mir nicht an. Ein Experte würde es aber möglicherweise anders empfinden und sich denken, dass ein weniger schönes Porträt von Klimt die Leiden der Welt darstellen soll", erklärt der Professor für Psychologie.
Ein Verständnis der Intention des Künstlers und der Geschichte des Schaffens lässt somit selbst aus dem nicht Schönen oder gar Hässlichen einen Genuss ziehen. Aus dem Wissen heraus, dass Joseph Beuys den Zweiten Weltkrieg "in Fett und Filz als Lebensstoff gehüllt" überlebt hat, würde also einen Fan des Konzeptkünstlers seine aus diesen Materialien bestehenden Arbeiten ganz besonders schätzen, abgesehen von deren ästhetischem Wert.
Neben der Wahrnehmung von Kunst widmen sich die Psychologen und Kunsthistoriker am neu gegründeten Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Uni Wien der Frage, wodurch sich die Betrachtung eines Kunstwerkes von der Auseinandersetzung mit alltäglichen Gegenständen abhebt. "Der Unterschied zwischen der Wahrnehmung der Umwelt und der Wahrnehmung von Kunst liegt im Grad der Mehrdeutigkeit. Im Alltag benötigen wir Eindeutigkeit. Kunst hingegen lotet mehrere Möglichkeiten aus und geht spielend damit um", sagt Leder.
Im Alltag beunruhigt jede Ambivalenz. Denn die Wahrnehmung der Umgebung muss die Alltagseffizienz fördern und unsere Handlungen unterstützen - etwas mit unerwartetem Ausgang auszuprobieren ist ein Risiko: "Wenn wir einen Tiger sehen, müssen wir wegrennen. Wir können nicht stehen bleiben und sagen: Das ist schön."
Um zu betrachten, gehen wir ins Museum - ein Ort der Reflexion. "In der Welt verändern sich Dinge schnell, die Kunst hält die Dinge hingegen fest. Sie erlaubt uns, Objekte, Sachverhalte oder Beziehungen von allen Seiten und mit einem anderen Blick anzuschauen, obwohl das Objekt immer das gleiche ist", sagt Leder. Dazu passend betrachten wir Kunst nicht ständig in der Zeitung, in Geschäften oder online, sondern es gehen jährlich tausende Menschen eben in Museen.