In der Schule lernen Kinder nur Rezepte für Mathematik, aber nicht, wie sie funktioniert, sagt Martin Hairer, der mit der Fields-Medaille den "Nobelpreis" für Mathematik erhielt. Angst vor künstlicher Intelligenz hat er nicht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Die mathematische Forschung bewegt sich zumeist auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass sie sich Nicht-Experten weder in Tragweite noch Inhalt erschließen. Im Fall Ihrer Studien scheint das anders zu sein. Eine mathematische Formel, wie viele kleine Entscheidungen letztlich in einer massiven Veränderung münden, könnte Anleger an der Börse hoffen lassen, die künftige Kursentwicklung nicht erraten zu müssen, sondern sie berechnen zu können. Machen Sie tausende Fondsmanager arbeitslos und sind Sie bald der reichste Mann der Welt?Martin Hairer: (lacht) Davon gehe ich nicht aus. Mit Börse-Spekulation hat meine Forschung nichts zu tun. Ich benutze zwar ähnliche mathematische Objekte wie die Banken bei Börse-Modellen, jedoch sind Börse-relevante Rechnungen die einfachste Form davon. Die Finanzmathematik kann keine Kursverläufe vorhersagen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten berechnen, was bei bestimmten Einflussfaktoren eintreten könnte. Insgesamt hat die Börse eher mit Psychologie zu tun als mit Mathematik.
Was darf man sich unter Ihrem Fachgebiet stochastische partielle Differenzialgleichungen vorstellen?
Diese Gleichungen beschreiben Systeme, die von Raum und Zeit abhängen und bei denen der Zufall eine Rolle spielt. Wenn ich den Luftzug im Raum modellieren will und etwas erzeugt zufällig eine Strömung, könnte ich diesen Faktor berechnen. Stochastisch bedeutet zufällig, jedoch können wir seinen Ausgang nicht berechnen. Außerdem ist das Problem, dass die Lösungen schwanken können, sodass ihre Bedeutung nicht klar ist. Meine Erfindung ist eine Regularitätsprinzip genannte Systematik, mit der sich die Bedeutung der Gleichung erkennen lässt.
Was ist für Sie das Schönste an Mathematik?
Wenn eine mathematische Aussage bewiesen ist, bleibt sie für alle Ewigkeit wahr. Die Mathematik der alten Griechen oder jene des 19. Jahrhunderts stimmt immer noch. Nicht alles ist heute relevant, aber es bleibt richtig.
Wann entflammte diese Liebe?
Ich studierte Physik und fühlte mich zur theoretischen Physik hingezogen. Jedoch hatte ich den Eindruck, dass die Argumente nur mehr oder weniger plausibel sind. In der Mathematik fand ich zweifelsfreie Beweise.
Warum haben viele Schülerinnen und Schüler Probleme mit Mathe? Sehen sie die Schönheit nicht?
Es wird versucht, Schülern beizubringen, wie etwas funktioniert, aber nicht, warum es funktioniert. Sie lernen 20 Muster-Probleme und jedes Rechenbeispiel ist eine Variation davon. Daraus entsteht der Eindruck, dass Mathematik aus Rezepten besteht, die man auswendig lernen muss, um sie dann auf Muster-Probleme anzuwenden. Aber die Zusammenhänge sehen viele Schüler nicht, weil ihnen niemand sagt, worum es wirklich geht und wofür es anzuwenden ist. Idealerweise sollte man Schülern vermitteln, Teile der mathematischen Welt für sich zu entdecken.
Sie forschen und lehren in London. Ist Österreich nicht das richtige Pflaster für Top-Mathematiker?
Ich kenne das System zu wenig, aber es gibt sehr gute Institutionen und Mathematiker in Österreich. Jedoch habe ich mehr Kontakte in Frankreich und in der Schweiz.
Sie sind der einzige Österreicher, der die Fields-Medaille bekommen hat. Haben Sie einen Tipp, warum unser Land nicht mehr Auszeichnungen auf Nobelpreis-Niveau erhält?
Es ist ein kleines Land - es gibt nicht viele Österreicher. Die meisten Träger der Fields-Medaille kommen aus Frankreich. Das ist teilweise dem System geschuldet, mit der der Ecole Normale Superieure in Paris - eine Spitzenschule mit vielen Preisen. Ob das aber ein gutes System auch für den Rest des Landes ist, ist die Frage.
Sie lehren und forschen am Imperial College in London. Bereitet Ihnen der Brexit Sorgen?
Mein Eindruck ist, dass die britische Regierung keine Ahnung hat, was passieren soll. Eine Möglichkeit für die Forschung wäre, in den Europäischen Forschungsrat für Top-Wissenschaft weiterhin einzuzahlen, um die prestigeträchtigen Förderungen zu erhalten. Die Alternative wäre ein vergleichbares britisches Programm. Sorgen macht mir die Ungewissheit. Mehrere Leute aus meinem Fach sind gegangen. Der Vorteil der Mathematik ist allerdings, dass sie, anders als Medizin oder Biowissenschaften, keine teuren Geräte benötigt. Sie ist irgendwie billig und funktioniert überall.
Sie haben ein Programm für Audio-Aufzeichnungen geschrieben, das auf Apple-Computern läuft. Durchdringt die Mathematik den Alltag, ohne dass wir es richtig bemerken?
Die Welt wäre ohne Mathematik nicht möglich. Ohne Kryptografie könnten Sie nicht über das Internet Ihr Bankkonto abrufen und nicht mit dem Handy telefonieren.
Wird die künstliche Intelligenz schon bald machen, was sie will?
Ich glaube nicht. Künstliche Intelligenz ist ein komisches Ding. Eigentlich steckt relativ einfache Mathematik dahinter, aber man versteht nicht, warum sie so gut funktioniert. Man begreift, wie ein Deep-Learning-Programm ein Brettspiel gewinnen kann, aber im mathematischen Sinn weiß man nicht genau, was es für dieses Programm bedeutet, keinen Fehler zu machen. Wenn ein selbstfahrendes Auto einen Unfall hat, stellt sich die Schuldfrage. Wenn man aber nur auf einem basalen Level weiß, warum das Programm so reagiert, ist sie schwer zu beantworten. Deep Learning besser zu begreifen ist ein pressierendes Problem unserer Zeit, aber wir wissen nicht, welche Frage wir stellen müssen.
Zur Person
Martin Hairer
geboren 1975 in Genf, ist ein österreichischer Mathematiker und Professor am Imperial College London. Für seine Arbeit zu stochastischen partiellen Differentialgleichungen erhielt er 2014 mit die Fields-Medaille.