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Künstliches Bewusstsein, das Gedanken liest

Von Eva Stanzl

Wissen
© WZ-Collage: Irma Tulek; Fotos: Google Deepmind, stock.adobe.com: master1305

1703 sah die Welt recht anders aus. Wo die Forschung in 320 Jahren stehen könnte, überlegt der Philosoph Tim Crane.


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"Wiener Zeitung": Im Gründungsjahr dieser Zeitung gab es keine moderne Zahnmedizin, keine Impfstoffe, keine Genetik. Das Telefon war nicht erfunden und ein Konzept für das Internet existierte nicht. Heute surfen wir um den Globus, kennen die DNA und können uns im Reagenzglas fortpflanzen. Lässt sich mit philosophischer Logik aus der Gegenwart ableiten, wo die Wissenschaft in 320 Jahren stehen wird?

Tim Crane: Nein, das lässt sich nicht ableiten. Aber Philosophen können Klarheit schaffen, was aus heutigen Gegebenheiten nicht entsteht. Wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit über Glasfaserkabel Information übertragen und wissen, dass nichts schneller reist als Licht, ist das die maximale Geschwindigkeit. Außer, wir bauen Anwendungen aus der Quantenphysik, die die Möglichkeit einer Kommunikation in Überlichtgeschwindigkeit nahelegt. Menschen, die einen Gehirnchip tragen, könnten dann vielleicht direkt kommunizieren. Anstatt zu sprechen, könnten sie einander ihre Gedanken übertragen.

Schnell wie von Zauberhand hat binnen weniger Monate Künstliche Intelligenz (KI) in Form eines Chatbots in die Wohnzimmer Einzug gehalten. Wie könnte die neue Technologie ihren Siegeszug fortsetzen?

Manche Forscher haben das Ziel, eine KI von universeller Intelligenz zu bauen, sie nennen das "artificial general intelligence", oder AGI. Seine universelle Intelligenz ermöglicht es dem Menschen, über reine Problemlösung hinaus zu denken. Während KI Gesichter erkennt und Texte und Übersetzungen auf Anfrage liefert, haben wir Menschen die Fähigkeit, die Welt an sich und alles, was in ihr passiert, zu reflektieren und uns ein Weltbild zu formen. Manche Forscher erwarten, dass in 50 Jahren auch Maschinen hierzu in der Lage sein werden.

Könnte eine Künstliche Intelligenz sich dann zum Beispiel den Nationalratswahlen stellen und regieren?

Davon gehe ich nicht aus. Gesichtserkennungssoftware gleicht die Welt mit Fotos in Datenbanken ab, um Etiketten für Dinge zu finden, die die Kamera registriert. Ein Chatbot reagiert also mechanisch auf Anweisungen und löst Probleme. Die universelle Intelligenz ist nicht auf spezielle Probleme beschränkt. Sondern sie schenkt uns den Hausverstand, der es uns ermöglicht, mit anderen Menschen auszukommen, oder aber Konversationen zu führen, die keinen singulären Zweck verfolgen. Wir reden, um jemanden kennenzulernen, um uns auszutauschen, aus Höflichkeit oder einfach aus Spaß. Ich halte es für einen Mythos, dass KI dazu jemals in der Lage sein wird.

Aber warum nicht? Immerhin schreibt eine KI offenbar den Code des Lebens um: Deutsche Forscher wollen damit neue, künstliche Proteine entwerfen.

Kühn! Aber pure Spekulation, wir wissen keineswegs, ob das funktioniert. Aus meiner Sicht ist Künstliche Intelligenz der Bau eines Computers, keines biologischen Modells des Gehirns. Ein Computer rechnet, um Lösungen auszuwerfen, aber man kann mit ihm nicht plaudern. Schon allein die Idee eines Algorithmus für Konversation ergibt keinen Sinn.

Um also eine Rechenmaschine mit universeller Intelligenz bauen zu können, müsste man wissen, welches Problem die künstliche universelle Intelligenz denn genau lösen soll. Das Problem ist nur, dass es kein Problem gibt! Der Hausverstand der natürlichen universellen Intelligenz weiß einfach, wie Dinge funktionieren, zusammenhängen und einzuschätzen sind und wie man durchs Leben kommt. All dies ist für Menschen kein Problem, sondern ein Daseinszustand. Deswegen wird KI in ihrer jetzigen Form als Rechner nie die Welt beherrschen und nicht intelligenter werden als wir. KI spricht, um zu informieren, und nicht, um zu flirten.

Vielleicht ist ein "artificial mind", also ein künstliches Bewusstsein, höchstens in einem Organismus möglich. Eventuell lässt sich ein denkender Organismus bauen, der alles so macht wie wir und daher auch so denkt wie wir. Das wäre eine riesige Entwicklung. Allerdings stellt sich auch noch die Frage, ob die Erde dann noch in einem Zustand sein wird, der für Menschen verträglich ist.

Welche Zukunft ist für unseren Planeten vorstellbar?

Ich halte den Schutz der Erde für die wichtigste und schwierigste Frage unserer Zeit. Eines scheint klar: Der Ruf führender KI-Forscher nach einem Moratorium für diese Technologie, deren Risiken ebenso gravierend wie die existenzielle Gefahr durch den Klimawandel seien, ist unplausibel. Ich halte künstliche Intelligenz für überbewertet. Die Debatte darüber lenkt uns nur ab von größeren Gefahren. Klima, Überbevölkerung, Atomkrieg, Infektionskrankheiten und Menschen, die KI-Computer bedienen, sind weitaus ernstere Risiken.

Die Demokratie wird untergraben, es gibt wieder Krieg in Europa, die Menschen scheinen nicht einander, sondern ihre Handys am wichtigsten zu nehmen. Wie haben wir’s mit Moral und Nächstenliebe?

Ich bin da nicht so pessimistisch, ich verbringe viel Zeit mit jungen Menschen. Mehr Sorgen macht mir die Konformität. Menschen werden auf Social Media gezwungen, sich Mehrheitsmeinungen anzupassen. Soziale Medien bringen in enormer Dimension einige der schlechtesten Seiten der Menschen hervor. Andere anzupöbeln, zu canceln oder mit persönlichen Angriffen unter Druck zu setzen, erinnert an die Hexenverbrennungen, aber früher war der Radius viel kleiner.

Heute verbreitet sich Information in Lichtgeschwindigkeit und kaum jemanden kümmert es, ob sie stimmt. Falsche Anschuldigungen und globaler Tratsch verursachen Leid, man hat Angst, seine Meinung auszudrücken. Diese Ausprägungen werden auch in den nächsten 320 Jahren nicht verschwinden, die Frage ist, was anstelle des Internets tritt.

Eine positive Note zum Abschluss?

Was bleiben wird, ist guter Wein! Den Weinbau gab es schon vor etwa acht Jahrtausenden.

Diesen Artikel finden Sie in Printform - ein letztes Mal - am 30.6. in der "Wiener Zeitung".