Beim Tory-Parteitag in Manchester bemüht man sich, den Brexit-Traum eines prosperierenden "Global Britain" am Leben zu halten.
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Es war, als seien die Länder jenseits des Ärmelkanals über Nacht hinter einer Nebelwand verschwunden. Beim Jahreskongress der britischen Konservativen verlor die Partei von Premier Boris Johnson diese Woche das arme alte Europa buchstäblich aus dem Blick. In ihrer Ansprache an die Delegierten in Manchester zählte Johnsons neue Außenministerin Liz Truss nämlich eifrig all die Alliierten des Vereinigten Königreichs auf, mit denen "Global Britain" in Zukunft eng verbunden sein möchte. Die USA, Australien, Mexiko und Japan standen wie zu erwarten auf dieser Liste. Und natürlich "die große Demokratie Indien und unsere Freunde im gesamten Commonwealth". Selbst Israel, Südkorea und die Golfstaaten fanden Erwähnung in Truss’ Bündnisschwüren.
Nur die Partner so vieler Jahrzehnte, die unmittelbaren Nachbarn, kamen nirgends vor. An keiner einzigen Stelle war von der EU oder Europa oder einzelnen europäischen Staaten wie dem immerhin nahe liegenden Frankreich die Rede. Mit den Begriffen "Nato" und "G7" waren die Europäer abgehandelt. Frankreich, Deutschland oder Italien beim Namen zu nennen, brachte Truss nicht über sich.
"Nur Anpassungsprobleme"
Selbst britische Beobachter wie der liberale Londoner "Guardian" fanden es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit die Chefin des Foreign Office für sich selbst "jede Spur" von Europa "beseitigt hatte". Vielen Tories ist bis heute kein Abstand zum Kontinent groß genug. Nun, da der Brexit vollzogen ist, fällt es Johnsons Regierung schwer genug, 5.000 Kurzzeit-Visa extra für Lkw-Fahrer aus dem EU-Bereich auszustellen, die die aktuelle britische Versorgungskrise entschärfen sollen.
Brexit-Kritiker im Land deuten dieses Angebot, das ihrer Ansicht nach eher die zehnfache Zahl an Visa zu sehr viel attraktiveren Bedingungen umfassen müsste, als Eingeständnis einer fehlgelaufenen Politik. Der Premierminister, der am Mittwoch seine große Rede am Parteitag halten wird, besteht hingegen darauf, dass es einen Weg zurück zu "unkontrollierter Immigration" post Brexit nicht geben könne.
Gewiss gebe es "Anpassungs-Schwierigkeiten" auf dem Weg zu der neuen Gesellschaft, in der irgendwann besser geschulte und besser bezahlte Briten die entsprechende Arbeit im Lande versehen würden, räumte Johnson ein. Keinen Sinn würde es aber machen, nun "jenen Hebel zu betätigen", der erneut "unkontrollierten" Zuzug von Europäern erlauben würde - und zurückzukehren zum verfehlten "alten Modell" von Niedriglöhnen, geringer Qualifikation und niedriger Produktivität.
Diese Erklärung auf dem Parteitag löste heftige Reaktionen aus bei Farmern, Firmen und Verbänden überall im Lande. Das Argument sei "Unsinn", war der Tenor: Löhne und Produktivität seien längst gestiegen, aber die Arbeitskräfte seien schlicht nicht da. Hohn und Spott ergoss sich auch über den Vorschlag von Vize-Premier Dominic Raab, entlassene Sträflinge und willige Asylbewerber als Lieferwagen- und Lastwagenfahrer anzuheuern. Was nicht ganz einfach wäre, da Innenministerin Priti Patel Asylwerber in Lager in Albanien oder auf noch fernere Inseln verbannen will.
Ironisch genug war, dass britische Supermärkte nun den bereits absehbaren Mangel an Truthähnen an den Weihnachtstagen ausgerechnet durch Importe aus Polen und Frankreich wettmachen wollen. Und dass von den Behörden unter anderem in Großbritannien ansässige Deutsche animiert wurden, sich als Lastwagenfahrer zur Verfügung zu stellen - weil ihr Führerschein das zumindest für leichte Lkw bis 7,5 Tonnen erlaubt.
Dauerbrenner Nordirland
Helfen sollen EU-Bürger. Aber einen anderen Aufenthaltsstatus soll ihnen das nicht bescheren. Schließlich, sagte Boris Johnson, hätten die Briten beim Brexit-Referendum von 2016 "für Wandel gestimmt". Dabei glaubt, jüngsten Umfragen zufolge, bereits ein Viertel derer, die damals für den Austritt stimmten, dass der Brexit sich auf die britische Wirtschaft "negativ" ausgewirkt hat.
Das beeindruckt den Regierungschef, der 2016 die Brexit-Kampagne anführte, aber nicht. Selbstverständlich habe er nichts gegen Immigranten, versicherte Johnson jetzt: "Wir alle stammen auf die eine oder andere Weise von Immigranten ab. Das war seit Jahrhunderten so. Und das ist ja auch wirklich fantastisch. Nur ist eben Kontrolle nötig bei diesem Prozess."
Anders als Außenministerin Liz Truss hat Brexit-Minister Lord Frost jedenfalls kein Problem damit, Europa beim Namen zu nennen. Dem Parteitag erklärte Frost, wenigstens sei "der lange Albtraum der EU-Mitgliedschaft" für sein Land vorbei. Nun müssten die Nationen jenseits des Kanals und der Irischen See sich endlich bereit finden, das sogenannte Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags von Grund auf neu auszuhandeln. Auf diese Bereitschaft könne London "nicht ewig warten", drohte Frost den "lieben Freunden". Trage Brüssel dem nicht Rechnung, werde das Protokoll in den nächsten Tagen außer Kraft gesetzt: keine Nebelwände für den freimütigsten Brexit-Hardliner im Kabinett.