Das türkische Parlament will am Donnerstag über einen militärischen Eingriff in Syrien entscheiden. Premier Erdogan plädierte für die Einrichtung einer Pufferzone entlang der türkischen Grenze.
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Ankara. Unter dem Eindruck einer Großoffensive der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gegen die syrische Kurdenstadt Kobani nahe der Südgrenze der Türkei deutet sich in Ankara ein Kurswechsel in der Syrienkrise an. Das Parlament in Ankara soll nach den Worten des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag darüber entscheiden, ob das türkische Militär in Syrien eingreifen und dort eine Pufferzone gegen die Islamisten schaffen könne. Erdogan hatte am Wochenende laut der regierungsnahen Zeitung "Sabah" erklärt, dass sich die türkische Position gegenüber Obamas Anti-IS-Koalition nach der Freilassung der 49 Botschaftsgeiseln aus Mossul durch den IS geändert habe.
Am Wochenende hatte sich Erdogan mehrfach zur Rolle der Türkei in der Syrienkrise geäußert. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Istanbul verurteilte er am Sonntag den "selbsternannten Islamischen Staat" scharf und sagte, dass eine dauerhafte Lösung im Antiterrorkampf nur mit Bodentruppen möglich sei - eine Ansicht, die auch der US-Generalstabschef Martin Dempsey vertritt, der dafür etwa 12.000 bis 15.000 Soldaten veranschlagt. Erdogan erneuerte zudem seine drei Jahre alte Forderung nach Einrichtung einer Puffer- und Flugverbotszone auf syrischem Gebiet entlang der türkischen Grenze. "Die Türkei wird ihre Pflicht erfüllen. Wir müssen unsere Grenzen beschützen", sagte er zu "Sabah". Falls die Türkei angegriffen werde, werde sie militärisch reagieren. "Für diese Fälle haben wir die Armee." Erdogan ist als Präsident zugleich Oberbefehlshaber der Armee.
Die USA reagierten ablehnend auf Erdogans Vorstoß. "Eine Pufferzone könnte irgendwann möglich werden, gehört aber gegenwärtig nicht zu unserem Einsatzplan", sagte Dempsey am Sonntag im Pentagon. Ankara hatte sich zwar Obamas Anti-IS-Koalition angeschlossen, wollte seine Beteiligung aber bislang auf humanitäre Hilfe beschränken und erlaubt den USA bislang auch nicht die Nutzung ihrer Luftwaffenbasis im südwesttürkischen Incirlik für die Luftangriffe gegen die Islamisten in Syrien. Doch gerät die türkische Regierung zunehmend unter Druck, sich auch militärisch einzubringen. Die Dschihadisten kontrollieren bereits Teile der mehr als 900 Kilometer langen Grenze des Nato-Staates Türkei und sind im Begriff, den syrisch-kurdischen Kanton Kobani einzunehmen. Innerhalb weniger Tage sind vermutlich mehr als 150.000 Kurden in die Türkei geflüchtet. Erdogan betonte, ihm gehe es auch um die 1,5 Millionen Syrer, die in die Türkei geflüchtet seien und in ihre Heimat zurückkehren sollten. Für sie könnten in Syrien "neue Städte" errichtet werden.
Nachdem die IS-Miliz in den vergangenen zwei Wochen bereits 60 Dörfer der Umgebung eroberte, steht sie jetzt kurz vor Kobani und beschießt nun auch das Stadtzentrum mit Panzern, Haubitzen und Mörsern. Mehrfach haben die Islamisten auch türkisches Territorium getroffen und dabei türkische Bürger verletzt. Amerikanische Kampfjets bombardierten seit Freitag IS-Stellungen um Kobani, ohne dass dies die IS-Offensive gestoppt hätte. Lediglich im Westen der Stadt gelang es den kurdischen Selbstverteidigungskräften (YPG), verlorenen Boden wiedergutzumachen. Türkische Armee und Polizei gehen an der Grenze seit Tagen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten und türkische Bürger vor, die den syrischen Kurden militärisch zu Hilfe kommen wollen.
Zahlreiche kurdische Politiker aus der Türkei kritisieren die Abschottungspolitik als gegen die Kurden gerichtete Politik Ankaras. Die Regierung wolle den syrischen Kurden nicht helfen, erklärte Atilla Yazar, Vorsitzender der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD, in der grenznahen Stadt Sanliurfa dieser Zeitung.
"Kurden würden Pufferzone als Besatzung betrachten"
"YPG und PKK kommen aus demselben Haus, das stört die Regierung. Sie betrachtet die YPG als eine syrische PKK." Deshalb denke Ankara gar nicht daran, die kurdische Gegenwehr zu unterstützen. "Aber die Kurden würden eine Pufferzone als Besatzung betrachten." Die YPG-Führung ihrerseits erklärte am Montag, dass sie die Einrichtung einer Pufferzone akzeptiere, "aber nicht mit der Türkei". In der Grenzregion äußern viele Kurden die Vermutung, dass Erdogan den IS-Vormarsch zulasse, um die Kurden zu schwächen.
Einer solchen Interpretation leistete der türkische Präsident am Montag Vorschub, als er laut der türkischen Zeitung "Radikal" in erklärte, der Westen bekämpfe die IS-Miliz "nur, weil sie den Islam im Namen führt", habe aber den Terrorismus der PKK jahrelang ignoriert, weil diese Organisation "nicht islamisch" sei. Gleichwohl scheint er das türkische Volk auf einen Strategiewechsel vorzubereiten. Alle türkischen Zeitungen zitierten am Montag seine Forderung nach einer Puffer- und Flugverbotszone, Letztere würde sich de facto gegen das Assad-Regime richten, dessen Sturz Ankara seit drei Jahren betreibt. Gegenüber "Sabah" stellte Erdogan klar, dass sich die Pläne der Türkei sowohl gegen den IS als auch gegen Assad richteten. "Diejenigen, die den Terror genährt haben, müssen dafür bezahlen", sagte er.