Die EU-Politiker sollten den Aufschrei der griechischen Gesellschaft ernst nehmen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Syriza-Wahlerfolg hat die Kommentatoren und EU-Wirtschaftspolitiker aufgerüttelt. Nach dem Motto "Derf ma denn das?" wird vehement Pakttreue gefordert und die Begleichung von Altschulden als ultimative moralische Verpflichtung "no matter what" verlangt. Irgendwie erinnert dies an den deprimierenden Sager eines US-Majors im Vietnam-Krieg: "We had to destroy the village in order to save it."
Und natürlich ist es sehr sinnvoll, endlich über die Richtung der EU-Wirtschaftspolitik und Krisenbekämpfung ernsthaft zu diskutieren.
Mehr als sechs Jahre nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise liegt das BIP der Eurozone noch immer unter jenem des Jahres 2007, ganz zu schweigen von den noch viel drastischeren Einbußen in den betroffenen "Programmländern".
Offenbar hat es den Paukenschlag des "linkspopulistischen" Wahlsieges von Syriza gebraucht, um diese Diskussion endlich in Gang zu bringen. Alle vorherigen Argumente von vielfacher Seite, dass Austerität keine erfolgreiche wirtschaftspolitische Strategie darstellen kann, sind von EU-Seite und seitens der einflussreichsten Euroländer immer wieder abgeblockt worden.
Man sollte seitens der EU-Politiker aber den Aufschrei der griechischen Gesellschaft ernst nehmen: Wenn die Gesellschaften weiter zerfallen, wenn die humanitäre Krise in Griechenland, die Regierungschef Alexis Tsipras vorrangig bekämpfen will, noch länger weitergeht, dann wird der Zulauf bei den nächsten Wahlen nicht zu den europafreundlichen Linksparteien wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien erfolgen, sondern zu den undemokratischen EU-Austrittsbefürwortern und EU-Zerstörern wie Front National, Goldene Morgenröte, AfD, FPÖ, Schwedendemokraten und wie sie alle heißen.
Was ich damit sagen will: Bei den kommenden Verhandlungen der Verantwortlichen der Eurozone mit der griechischen Regierung geht es nicht nur um das Schicksal von Millionen von Griechinnen, sondern auch darum, den weiteren Aufstieg der europafeindlichen, xenophoben und rassistischen Kräfte, die nach "Volkssouveränität" schreien, zu bremsen.
Die EU steht also an einer Wegscheide: Gewinnen die moralisierenden Nordländer (welcher Regierungskonstellation auch immer) das Argument mit dem Einfachargument "pacta sunt servanda" und verlieren damit die Schlacht gegen die Zerstörung des Jahrhundertprojekts EU, oder setzt sich die Einsicht durch, dass Europa dringend eine Wachstumsstrategie, eine Strategie der sozialen Integration und Solidarität und des ökologischen Wandels benötigt, um zukunftsfähig zu sein? Zuallererst muss die Krise wirksam bekämpft werden. Die bisherige Strategie aus Budgetkonsolidierung plus Strukturreformen ist - sichtbar für alle - gescheitert.
Wie provokant Syriza-Vertreter in den Augen der EU-Verhandler auch auftreten mögen, sollten diese immer daran denken, wie provokant die Politik der Troika auf jene Griechen wirkt, die ihre Arbeit und ihr Einkommen, ihre Krankenversicherung und ihre Heizung verloren haben. Und vor allem, was wirklich auf dem Spiel steht: Europäische Union und Demokratie oder Rechtsnationalismus, Protektionismus und Ausgrenzung.