Der Biologe und Verhaltensforscher Kurt Kotrschal spricht über Nobelpreise und Wissenschaftsförderung, vergleicht Hunde, Wölfe und Gänse und konstatiert die Entbehrlichkeit von Männern.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Fast alle Wissenschafts-Nobelpreise gingen heuer an die USA. Sie haben selbst in den USA gelehrt. Können Sie erklären, woher dieser Erfolg kommt?
Kurt Kotrschal: Einer der Gründe liegt darin, dass manche US-Universitäten seit Jahrzehnten zur absoluten Weltspitze gehören und dadurch sehr viele private Gelder bekommen. Es ist ein österreichisches Spezifikum, dass es so gut wie keine Förderung der Forschung durch Private und durch die Wirtschaft gibt. Ein weiterer Grund liegt in den Mentalitäten. Österreich liegt europaweit an letzter Stelle, was das Interesse an der Wissenschaft betrifft. Dadurch sinkt natürlich auch das Interesse der Politik, das zu finanzieren. In diesem Teufelskreis stecken wir.
Und was könnten wir ändern?
Österreich hat in den letzten 15 Jahren eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung in der Grundlagenforschung gemacht, und das bei unzureichender Finanzierung der Unis und nicht immer zureichender Finanzierung des FWF, des "Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung in Österreich". Das ist eigentlich die einzige Quelle, wo man kompetitive Anträge stellen kann, um Grundlagenforschung - die betrifft alle Fächer, die an der Universität gelehrt werden - finanziert zu bekommen.
Grundlagenforschung ist nicht nur ein Teil der Kultur, sondern tatsächlich die Basis für alle weiteren Entwicklungen. Hier wird der Nachwuchs trainiert, hier entsteht internationale Vernetzung. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Anträge und auch die Qualität der Anträge, aber die Finanzierung des Fonds blieb gleich. Ich sitze im Kuratorium des Fonds, also an der Infoquelle: Das Geld fehlt leider, und auch innerhalb der letzten Sitzung mussten wir wirklich gute Anträge ablehnen. Da sitzt dann ein Haufen frustrierter Jungwissenschafter herum, die wir ans Ausland verlieren, während viel zu wenige aus dem Ausland wieder zurückkommen. Es wäre also wirklich eine Aufgabe der nächsten Regierung, die Dotierung des Fonds zu verdoppeln, um den Wissenschaftsstandort Österreich zu sichern, und dadurch auch den Wirtschaftsstandort. Es wäre wirklich schade, wenn die Entwicklung der letzten 15 Jahre durch unzureichende Finanzierung zunichte gemacht würde. Man darf nicht vergessen, nach ein paar Jahren mit eingeschränkten Mitteln muss man praktisch von vorne anfangen, weil die Leute und die Strukturen weg sind.
Kommen wir zu Ihrem eigenen Forschungsfeld, der Ethologie. Kann die Verhaltensbiologie uns etwas über die Gesellschaft lehren?
Es gibt keine politischere biologische Disziplin als die Verhaltensbiologie. Das Konzept, wie Menschen ticken, hat einen direkten Bezug etwa zu der Frage, wie formbar sie sind. Wenn man genauer hinsieht, merkt man, dass im letzten Jahrhundert die USA und die UdSSR gar nicht so weit voneinander entfernt waren mit ihrem Menschenbild. Die einen wollten den sozialistischen Menschen formen und die anderen predigten, dass jeder Einzelne alles erreichen kann, wenn er sich nur anstrengt. Der Hintergrund beider Systeme war also der Glaube an die unbeschränkte Formbarkeit von Individuen. Die Ergebnisse unserer Forschung zeigen: wir kommen mit Anlagen auf die Welt und können nicht alles so frei gestalten. Das war keine gute Botschaft für beide Seiten. Mittlerweile hat sich diese Erkenntnis durchgesetzt. Das biologische Weltbild ist ein Teil des neuen Pragmatismus auf der Welt. Niemand glaubt heute ernsthaft daran, dass der perfekte Mensch entsteht und wir in 200 Jahren keine Kriege mehr führen.
Die Vernunft kann also gar nichts bewirken?
Das habe ich nicht behauptet. Ich sage meinen Studenten immer, wenn es um die menschliche Soziobiologie geht, sie sollen ja nicht behaupten, der Kotrschal habe gesagt, das sei evolutionär so angelegt und wir könnten nichts dafür. Das stimmt nämlich nicht. Aber uns wird immer wieder vorgeworfen: "Wenn Ihr Biologen sagt, was ist, meint Ihr damit, was sein sollte." Das ist natürlich nicht so. Ein Beispiel ist der Kindermord. Infantizid ist ein unter Säugetieren relativ verbreitetes Phänomen. Eine bestimmte Kategorie von Kindermord unter Menschen fällt darunter. Der gefährlichste Faktor eines noch abhängigen Kindes ist immer der neue Freund der Mutter. Es ist weder schön noch politisch korrekt, das zu behaupten, aber die Kriminalstatistiken sprechen eine deutliche Sprache. Das kann man eindeutig als evolutionäres Erbe identifizieren. Wenn du als Säugetiermännchen abhängige Nachkommen aus dem Weg schaffst, ist das Weibchen schneller bereit, deine eigenen Kinder auszutragen. Das ist nicht nur bei vielen Tierarten so, sondern im Ansatz auch beim Menschen.
Als Biologen haben wir die Verpflichtung, das aufzuzeigen, wobei natürlich der Überbringer der schlechten Botschaft geprügelt wird. Aber nur weil wir sagen, "passt auf, diese Gefahr gibt es", heißt das natürlich nicht, dass die Biologen für den Kindermord beim Menschen eintreten. Doch die Diagnose ist wichtig - wo müssen wir hinschauen, um das abzustellen?
Wie frei ist der Mensch mit all seinen evolutionären Anlagen?
So frei, wie er sich selber macht. Das ist eine alte idealistische Diskussion, die in der Art eigentlich keine Berechtigung hat. Du kannst freie Entscheidungen nur im Rahmen deiner Gegebenheiten treffen. Eine Ameise trifft ihre Entscheidungen auf einer anderen Basis als ein Mensch. Wir treffen unsere Entscheidungen im Rahmen unserer Art und unserer Individualität. Je besser deine Frühbetreuung verlaufen ist, umso besser entwickeln sich Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Reflexion der eigenen Handlungen, soziale Kompetenz und so weiter. Aber in diesem Rahmen ist jeder Mensch auch für seine Handlungen verantwortlich. Auch wenn die Psychologie und die Gehirnforschung mittlerweile wissen, dass der präfrontale Kortex Sekunden, bevor wir uns entscheiden, ob wir dies oder jenes machen, bereits aktiv ist und die Entscheidung kennt, bevor sie uns bewusst wird. Es hat eine gewisse Berechtigung zu sagen, "es denkt für uns". Andererseits, dieses "Es", dieses Gehirn, hat ja etwas mit mir zu tun, mit meiner Vergangenheit und meinem sozialen Umfeld.
In der Kommunikation der Menschen spielen viele Dinge eine Rolle: Körperhaltung, Blicke, Gerüche. Jetzt kommunizieren wir seit ein paar Jahren immer mehr über technische Medien miteinander. Wie wirken sich Facebook, Smartphone & Co. auf das Verhalten der Menschen aus?
Das ist ein hochinteressantes Gebiet, es wird nur meist ideologisch kommentiert statt auf der Basis von Daten. Elektronische Kommunikation befriedigt einerseits unser Mitteilungsbedürfnis, andererseits schafft sie Distanz. Das hat natürlich Vorteile, weil Kommunikation etwas Anstrengendes ist: Ich muss in der direkten Kommunikation auf den anderen eingehen, abschätzen, wie er drauf ist, soziale Regeln einhalten etc.
Wir wissen noch sehr wenig, was diese Änderung mit uns macht. Amerikanische Pädagogen haben das Konzept des "Natur-Defizit-Syndroms" geprägt, das durch schlechte Impulskontrolle, schwache Konzentrationsfähigkeit, mangelnde Verlässlichkeit, schlechte soziale Kompetenz gekennzeichnet ist. Dieses Syndrom ist besonders bei Kindern ausgeprägt, die in einer rein künstlichen Umgebung aufgewachsen sind, und nicht im Kontakt mit Natur und Tieren. Diesen fehlt oft in großem Ausmaß das Verständnis für natürliche Zusammenhänge und Rhythmen.
Reden wir über Sex. Das Paarungsverhalten der Menschen hängt ja immer sehr stark von der Zeit und der Gesellschaft ab. Bei den Tieren gibt es verschiedenste Modelle, gute Väter, Rabeneltern, homosexuelle Graugänse, monogame Tierarten, promiske . . . zu welcher Gruppe gehört der Mensch?
Der Mensch war nie ein konsequent monogames Wesen. Langzeitmonogamie ist eine schöne, aber rein moralische Forderung. Monogamie in der Tierwelt hat immer mit dem Aufziehen gemeinsamer Nachkommen zu tun. Man wird monogam, wenn das Weibchen allein die Aufzucht der Jungen nicht schaffen kann, und bleibt so lange zusammen, bis der Nachwuchs die Eltern nicht mehr braucht. Dass viele Frauen heute ihre Kinder nicht mehr gemeinsam mit dem Vater, sondern alleine aufziehen, ist auch als eine biologisch fundierte Entwicklung zu sehen. Wann immer Frauen es sich leisten können, sich der Männer zu entledigen, sollten sie das, evolutionär gesehen, tun.
Das klingt schon ein bisschen hart!
Biologisch gesehen ist es sinnvoll. Männer verursachen einen Haufen "Verhaltenskosten" und bringen relativ wenig. Aber Biologie hat natürlich mehrere Ebenen. Auch soziale Überlegungen sind wichtig. Partnerschaften sind ja nicht exklusiv da, um Kinder zu zeugen. Ein guter Partner ist jemand, neben dem man sich wohlfühlt. Das konnten wir auch an den Graugänsen nachweisen und das lässt sich in dem neuen Buch "The Social Life of Greylag Geese" (Cambridge University Press) wunderbar nachlesen. Das ist die Zusammenfassung von 20 Jahren Arbeit zum Sozialsystem von Graugänsen an der Konrad Lorenz Forschungsstelle.
Was bringt Monogamie den Gänsen?
Die Langzeitmonogamie hat vor allem die Funktion, einander sozial zu unterstützen, zu beruhigen und wechselseitig stressdämpfend zu wirken. Ein Partner, bei dem man sich wohlfühlt, ist einer, bei dem man die Stresshormone nach unten fährt. Auch bei Menschen weiß man mittlerweile, dass es einen Hauptfaktor gibt, der ein langes, gesundes und glückliches Leben vorhersagen lässt, und das ist die balancierte Emotionalität, bei der Gefühle wie Zufriedenheit und Dankbarkeit überwiegen. Das zu erreichen haben Menschen verschiedene Wege. Einer davon ist mit einem Partner alt werden, und das in Ruhe und Frieden.
In Österreich werden ja auch Hunde gerne als Partner gesehen.
Natürlich. Sie gehören in unsere Kultur und spielen eine wichtige Rolle. Es gibt Studien darüber, dass Kinder, die mit Hunden aufwachsen, sich emotional, körperlich und kognitiv besser entwickeln als Kinder, die ohne Hunde aufwachsen. Und zwar unabhängig davon, ob sie Geschwister haben oder nicht. Das ist ganz gut erforscht. Und Hunde haben als Sozialpartner eben doch einen anderen Stellenwert als Goldfische oder Meerschweinchen.
Weniger beliebt sind bei uns Wildtiere wie Wölfe oder Bären. Woran liegt das?
In kaum einem anderen Land der Welt ist die Jagd so mit Wirtschaft und Politik vernetzt wie in Österreich. Es bleibe dahingestellt, ob sich daraus ein Demokratiedefizit in unseren Wäldern ergibt. Es muss ja irgendeinen Grund haben, dass in Österreich dreißig Braunbären verschwunden sind und warum Österreich, obwohl es den besten Lebensraum für Wölfe bieten würde, immer noch keine Wolfsrudel hat. Dabei haben wir regelmäßig Wölfe im Land. Sie kommen über die Schweiz aus Italien, vom Balkan und aus dem Nordosten. Und dann verschwinden sie und niemand weiß, warum. In Deutschland leben zurzeit 25 Wolfsrudel, und dort kommt man auch damit zurecht.
Wie groß ist so ein Rudel?
Zwei bis sieben Tiere etwa, bei europäischen Wölfen. Überall wo Wölfe auftauchen, gibt es Konflikte, aber das ist eine sehr irrationale Geschichte. Der Wolf neigt nicht zum Menschenfressen, und vor allem gehen die Kinder heute nicht mehr mit dem Vieh in den Wald. Es gibt keine anderen Wesen, die uns Menschen so nah sind wie Wölfe. Wölfe und Menschen sind Schwesternarten. Erste Kontakte von Wölfen und Menschen gab es ziemlich sicher bereits vor 60.000 Jahren im Nahen Osten. Damals konnte man Wölfe ja nicht an eine Metallkette oder Leine hängen, es handelte sich also wohl um eine partnerschaftliche Angelegenheit.
Man hat auch Wolfsgräber gefunden, was auf eine enge Beziehung zum Wolf hindeutet. Wenn man in einer animistischen Gesellschaft lebt, in der Schamanen die Verbindung zur Welt der Geister herstellen, spielen Tiere immer eine große Rolle. Wölfe waren wichtige Totemtiere, in der Mongolei zum Beispiel. Im Gründungsmythos der Türken spielt ein Wolf eine entscheidende Rolle, im Gründungsmythos von Rom ebenso.
Inwiefern sind Wolf und Mensch einander ähnlich?
Wir sind beides Arten, die aufgrund der geistigen Leistungsfähigkeit eine unglaubliche Vielfalt von Lebensräumen besiedeln können, wir haben die gleichen Jagdstrategien, wir haben die gleiche Lebensweise und vor allem, wir haben die gleiche soziale Organisation, wirklich bis ins Detail. Wir sind Kleingruppenwesen, die innerhalb der Gruppe sehr nett kooperieren, wir arbeiten bei der sozialen Jagd zusammen, bei der gemeinsamen Aufzucht des Nachwuchses und auch bei Grenzkriegen.
Wie unterscheiden sich Hund und Wolf?
Genetisch nicht allzu sehr, Mutationen am Weg zum Hund betreffen Stärkeverdauung und Gehirnbildung. Auch die grundkognitiven Leistungen von Wölfen und Hunden sind nicht sehr unterschiedlich. Die Problemlösungsfähigkeit von Wölfen ist allerdings viel besser als die von Hunden, auch das Kooperationsverhalten mit dem Menschen ist beim sozialisierten Wolf feiner justiert.
Sie setzen beim Umgang mit Wölfen und Hunden auf Partnerschaft.
Langsam setzt sich der partnerschaftliche Zugang allgemein durch, das merkt man vor allem bei den Profis: Helferhunde, Polizei- oder Bundesheerhunde werden partnerschaftlich aufgezogen, da gibt es wirklich ausgezeichnete Trainer und es ist absolut eindrucksvoll, wohin man kommt, wenn man völlig ohne Druck arbeitet.
Aber gefährlich bleibt der Wolf doch?
Kommt drauf an, für wen. Uns tun sie nichts. Wir sind auch nicht Teil des Rudels, das ist natürlich sicherer. Wir haben die Wölfe beim Aufwachsen nie gemaßregelt, wir nehmen ihnen kein Futter weg, sind also keine Konkurrenten. Einige unserer Rüden sind dominant gegen uns, mit einigem Recht, denn dem Angriff eines Wolfs hat man nichts entgegenzusetzen. Allerdings ist es auszuschließen, dass du spontan angegriffen wirst. Im Gegensatz zum Hund denkt der Wolf immer zuerst nach und handelt erst dann.
René Freund, 1967 in Wien geboren, lebt in Grünau im Almtal. Er ist Autor von Sachbüchern, Dramen, Reisebüchern und Romanen. Heuer erschien im Wiener Deuticke Verlag sein Roman "Liebe unter Fischen".
Kurt Kotrschal, geboren 1953 in Linz, lehrt Verhaltensbiologie an der Universität Wien, leitet als Nachfolger von Konrad Lorenz die "Konrad Lorenz Forschungsstelle" in Grünau im Almtal und ist Mitbegründer des "Wolf Science Center" im niederösterreichischen Ernstbrunn.
Kurt Kotrschal studierte Biologie in Salzburg, wurde 1981 promoviert und 1987 habilitiert. Von 1981 bis 1989 war er Assistenzprofessor an der Universität Salzburg und 1989 bis 1990 Assistant Visiting Professor an der Universität Colorado, Denver (USA). Dort forschte er und verfasste wissenschaftliche Artikel über die Evolution der Fische und zur Funktion von Sinnes- und Nervensystemen. Er beschäftigt sich überdies mit hormonalen und kognitiven Gesichtspunkten sozialer Organisation, sowie der Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung, insbesondere der Beziehung zwischen Mensch und Hund.
2011 wurde Kotrschal zum österreichischen Wissenschafter des Jahres gewählt. Sein neuestes Buch "Wolf - Hund - Mensch. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung" (Brandstätter Verlag Wien 2012) wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2013 in der Kategorie Medizin/Biologie gewählt.
Sonstige Publikationen (Auswahl)
Faktor Hund - Hund. Eine sozio-ökonomische Bestandsaufnahme der Hundehaltung in Österreich. Czernin Verlag, Wien 2004 .
Konzepte der Verhaltensforschung. Konrad Lorenz und die Folgen. Filander Verlag, Fürth 2001.
Im Egoismus vereint? Tiere und Menschentiere - das neue Weltbild der Verhaltensforschung. Piper Verlag, München 1995, Neuauflage. Filander 2001.