Der Komponist Kurt Schwertsik berichtet zu seinem 75. Geburtstag über seinen künstlerischen Weg und dessen nicht immer ganz ernsthafte Folgen.
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Wenn von der Avantgarde der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gesprochen wird, erscheint ein Prinzip unumstößlich: jenes der Atonalität, oder besser Atonikalität, die jeden Bezug auf einen Grundton vermissen lässt und sich anderen Parametern zuwendet, welche, an der Schule Arnold Schönbergs orientiert, in eine ungewisse Zukunft weisen. Waren dabei "vertraute" Elemente wie Dreiklänge und dergleichen im Spiel, erhielten die Musik und deren "Hersteller" das Verdikt des ewig Gestrigen, wenn sie nicht gleich samt und sonders in einem bestimmten politischen Spektrum angesiedelt wurden.
Kurt Schwertsik hat diesen Weg trotzdem nicht gescheut und so zu einer erweiterten Tonalität gefunden, die in ihrer erfrischenden Unkonventionalität Wege zu beschreiten vermag, die so manchen Neuerern auch nicht im Ansatz zugänglich waren.
"Wiener Zeitung": Es existiert eine Abbildung, auf der der dreijährige Kurt mit einer Trompete abgebildet ist. Wie kamen Sie zur Musik? Kurt Schwertsik: Das Schöne war, dass es bei meinem Großvater in der Slowakei "hiniche" Instrumente gegeben hat, wie große und kleine Trommel oder Bassgeige. Außerdem war dort damals noch der Ausrufer tätig, der mit der Trommel durch das Dorf zog, um Neuigkeiten zu verkünden.
Meine eigentliche Beziehung zur Musik wurde dann durch meine Mutter gefördert, die mir Puccini-Arien vorgesungen und mich zum sechsten Geburtstag in die Volksoper geführt hat, wo ich vor der Pause ein Ballett gesehen habe, das mich aber nicht sonderlich beeindruckt hat, dann aber, im zweiten Teil, den "Bajazzo". Ich weiß nicht, ob es die Musik selbst war, aber von dem Zeitpunkt an wollte ich selbst Musik machen. Wir sind bald danach, um der Bombardierung auszuweichen, nach Retz gezogen, wo ich bei einer Frau Zemlinsky Klavier gelernt habe; das Üben aber war mir zu mühsam, und so ging nicht viel weiter.
Es war also sichtlich das Ereignis dieses Opernbesuches, das man als Initialerlebnis bezeichnen kann. Hat die Oper auch weiterhin Einfluss auf Ihr musikalisches Leben gehabt?
Ja! 1947 bin ich einmal in die "Walküre" gegangen, und von da an habe ich dreimal pro Woche die Oper im Theater an der Wien besucht. Die Wagner-Begeisterung von damals ist in der Versuchung gemündet, selbst Opern zu verfassen. Mein Schulfreund Franz Eugen Dostal kam 1949 auf die Musik-Akademie. Nachdem ich meine Mutter ausreichend gequält hatte, folgte ich ihm ein halbes Jahr später. Ich kam ebenfalls zu Joseph Marx, der mir besonders empfohlen wurde. Dort habe ich versucht, mich durch die etwas spröde Harmonielehre durchzuarbeiten, den Kontrapunkt habe ich immer bevorzugt. Einmal habe ich Marx eine Komposition vorgespielt, die ich für die österreichische Jugendkulturwoche geschrieben hatte und die in Innsbruck uraufgeführt wurde. Fünf Stücke für drei Instrumente, die nicht näher bezeichnet wurden, weil wechselnde Besetzung gewünscht war.
Marx ging in Pension, und ich wechselte zu Karl Schiske. Der Verein "Junge Komponisten" hat mich dann eingeladen, bei einer Aufführung mitzuwirken, wo ich meine eigene Hornsonatine op.1 gespielt habe. Marx hat mich in einer Kritik in der "Wiener Zeitung" als "Fröhlichen Freizeichner im Fünfliniensystem" bezeichnet. Mir war das Stück im Ganzen viel zu anstrengend, nervös war ich auch, und so musste ich einiges tiefer spielen; eine wichtige Erfahrung für meine spätere Berufspraxis. Ich habe dann Teile dieses Stückes um eine Terz herunter gesetzt.
In den frühen Jahren hatten Sie, nicht zuletzt durch die Mitbegründung der "reihe", auch Affinitäten zur Avantgarde. Wie sind Sie mit den zeitgenössischen Strömungen der 50er Jahre in Berührung gekommen?
Eines Tages hat mich mein älterer Kollege Leopold Marksteiner in ein Konzert mitgenommen, in dem ich zum ersten Mal moderne Musik hörte, was mich sehr beeindruckte: Hindemiths "Symphonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber", sowie Strawinskys "Le Sacre du printemps" mit seinen vertrackten Rhythmen. Ich hatte einen Podiumssitz hinter den acht Hörnern. Die Leute im Publikum um mich herum haben gelacht, und obwohl ich wenig von der Musik verstanden habe, war mir dieses Lachen zutiefst zuwider. Deswegen habe ich mir am nächsten Tag die Wiederholung des Konzertes vom Stehplatz aus angehört und begonnen, den vierhändigen Klavierauszug des "Sacre" zu studieren.
Auch später, bei den "Orchestervariationen" von Schönberg oder Luigi Nonos "Incontri" (1955), hat mich solches Lachen geradezu genötigt, den Komponisten besser verstehen zu lernen. Das bedeutet nicht, dass Lachen immer geringschätzig gemeint sein muss: Am 1. Juni 1955 wurden in Darmstadt Stockhausens "Klavierstücke VI - VIII" gespielt; die Atmosphäre war bereits aufs Äußerste gespannt, als die Pianistin Marcelle Mercennier einen hohen Ton spielte und durch die offenen Türen aus dem Garten eine Grille zu hören war, die fast auf dem selben Ton zirpte: Das Publikum begann haltlos zu lachen, und Stockhausen verließ fluchtartig den Saal.
Stichwort Darmstadt: Wie waren Ihre Erlebnisse mit diesem vielfach als doktrinär empfundenen Zugang zu "neuer Musik" bei den Darmstädter Ferienkursen? Bei der dortigen Aufführung meiner "Liebesträume" haben die Leute mit Papierkugeln auf mich geschossen, da ich partiell Dreiklänge verwendet hatte. Doch auch bei Stockhausen haben die Leute gelacht, kaum dass er bei seinen Kursen eine Oktave angeschlagen hatte, worauf er versuchte, den Anwesenden klarzumachen, dass diese ein Intervall sei wie jedes andere. Die "Liebesträume" waren aber ein Riesenerfolg: Stockhausen hat mir während des Applauses ein Stück Zucker zugeworfen, auf dem stand "bitte beehren sie uns bald wieder" - eines der schönsten Komplimente das ich je bekommen hatte!
Gleichzeitig aber war ich ratlos, weil ich nicht wusste, wie ich meinen Weg weiter gehen sollte. Ich bin dann als Hornist zum NÖ-Tonkünstlerorchester gegangen, weil ich Geld verdienen musste. Von einigen Kollegen, die sich 1963 zum Eichendorff-Quintett formiert haben, bin ich um ein Werk für eine geplante Kanada-Tournee gefragt worden, und so habe ich das Eichendorff-Quintett komponiert, das auf Sätze des Dichters Bezug nimmt. Dabei habe ich zum ersten Mal versucht, streng tonal zu schreiben.
In der Literatur über Sie steht etwas von einer großen Krise. Wie ist das zu verstehen?
Ich war nahezu ein Jahr in Köln und bin täglich bei Stockhausen im elektronischen Studio gesessen. Außerdem war ich damals von Maurizio Kagel stark beeinflusst und habe auch Heinz Klaus Metzger, Sylvano Busotti oder Nam June Paik kennen gelernt. Mir ist bald klar geworden, dass das nur zum Teil meine Welt sein kann. Anschließend hatte ich ein Stipendium für neun Monate in Rom, wo zwar einige Kompositionen entstanden sind, wo ich aber vor allem darüber nachdachte, was ich als 25-Jähriger eigentlich wollte.
Als Orchester-Musiker habe ich die Praxis und die damit zusammenhängenden Klischees kennen gelernt, denen ich unbedingt ausweichen wollte, auch am Sektor der Avantgarde. Mein großes Vorbild war John Cage, dessen zen-buddhistisches Lachen jeden Ernst hinter sich lassen konnte.
Sie haben später Ihren Weg eher in einer erweiterten Tonalität gesehen. Wäre das Ensemble "die reihe" auch nach 1958 begründbar gewesen und könnte Ihr "Sonderweg" ein Grund sein, dass Sie in den Konzerten damals nicht so oft gespielt wurden?
Das war nicht unbedingt ein Widerspruch! Ich habe ja auch weiterhin "die reihe" betrieben und mich nicht von der Szene verabschiedet. Ich war anfangs in der Organisation tätig, was aber nicht meine Stärke war. Außerdem war ich damals seltener in Wien, weshalb meine Stücke nicht so oft gespielt wurden.
Sie haben 1965 gemeinsam mit Otto M. Zykan die "Salonkonzerte" begründet, in denen die Salonmusik quasi zum Programm erhoben wurde. In späteren Jahren haben Sie einmal geschrieben: "Salonmusik schien mir die geeignete Mischung aus Provokation und Anbiederung auszustrahlen, die den gewünschten Kreis von Zuhörern anziehen würde." Bedienen Sie als Komponist beide Seiten?
Habe ich das wirklich gesagt? Wenn ich von Anbiederung gesprochen habe, dann eher in einem sarkastischem Sinn, da ich Tonalität nicht als Kompromiss auffasse. Ich war damals gegen den Begriff der Tiefe. Was da ist, sind die Noten und mehr nicht, und wem das Stück nicht gefällt, der bekommt sein Geld zurück. Das hat in die vorhin erwähnten "Liebesträume" gemündet.
Wenn ich ein Stück schreibe, überlege ich mir vor allem, wie ich es machen muss, dass das Publikum nicht einschläft. Mein größter Stolz ist, dass ich sagen kann, es war den Zuhörern meiner Konzerte kaum langweilig. Ich habe es jetzt in Manchester wieder erlebt, wo bei einem Orchesterkonzert im Februar 2010 die "Irdischen Klänge" und das Trompetenkonzert aufgeführt wurden: fast eineinhalb Stunden Schwertsik, und nicht einmal mir war fad!
Sie haben im Rahmen Ihres Kalifornien-Aufenthaltes im Jahr 1966 den Begriff "MOB art & tone ART" geprägt. Welche Vorstellungen standen bei dieser Erfindung Pate?
Das ganze Projekt hatte zu tun mit meiner Begeisterung für diese Zeit der POP-ART & OP-ART und deren Vorläufer. Ich habe einen Stempel hergestellt und auf alle Briefe und Couverts "MOB art & tone ART" gestempelt; es war ein poetisches, gleichsam ein Fluxus-Statement. Das Ensemble gleichen Namens, mit dem ich nur am Rand etwas zu tun hatte, wurde später gegründet. Die dazugehörige Musik habe ich nachgeliefert.
Die sogenannten Werkeinführungen stellen hin und wieder ein Problem dar. Wie sehen ihre Lösungsversuche aus?
Ich wollte H.C. Artmann nacheifern, der bei seinen Handwerkerportraits in "Fleiß und Industrie" eine gewisse "falsche" Einfachheit so wunderbar produzieren konnte, die mir sehr nachahmenswert erschien, und so habe ich Werkeinführungen geschrieben, die eigentlich nur poetische Paraphrasen waren und überhaupt nichts mit der Musik zu tun hatten. Wer die Ästhetik Artmanns nicht kennt, versteht auch meine Einführungen nicht, was manchmal zu Missverständnissen führt.
Ist in nächster Zeit wieder etwas Neues von Ihnen zu erwarten?
In England, wo ich einen gewissen Stellenwert habe, hat das Chamber-Orchestra heuer wieder "Adieu Satie" für Bandoneon und Streichorchester gespielt. Im Oktober habe ich mit Jochen Ulrich in Linz meine Ballettfassung des Kafka-Romanfragments "Amerika" gemacht, wo ich zwei Stunden Musik geliefert habe, was für mich sehr viel ist. Für den Solo-Flötisten und das Orchester von Liverpool schreibe ich ein Flötenkonzert, und Klaus-Peter Kehr hat mich in Mannheim wieder mit einem Auftrag bedacht, mit einer Jugendoper nach F. K. Wächters "Eisprinzessin". Die Premiere ist für April 2011 geplant, da heißt es anpacken!
Zur Person
Kurt Schwertsik ist am 25. Juni 1935 in Wien geboren. Er studierte an der Wiener Musikakademie Komposition und Horn. Lange Jahre war er auch als Orchester-Hornist tätig. Zusammen mit Friedrich Cerha gründete er 1958 das Ensemble "die reihe" für Neue Musik. Später wurde er Schüler von Karlheinz Stockhausen.
Ab 1962 begann Schwertsik, mit der Tonalität zu experimentieren und entwickelte sich zu einem der führenden Komponisten Österreichs. Von 1989 bis 2003 unterrichtete er als ordentlicher Professor Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Markus Vorzellner lebt als Pianist, (Schwerpunkt Liedbegleitung) Musikpublizist und Pädagoge in Wien.