Der Politikstil des Kanzlers, der stets hervorstechen will, ist oft eine Stärke und manchmal eine Schwäche.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Sebastian Kurz zählt zu jenen Politikern, die ungern mit der Menge mitschwimmen. Der Bundeskanzler will hervorstechen. Das machen manche, indem sie polarisieren, aber das ist nicht Kurz’ Kerngeschäft; da er es aber ohnehin tut, versucht er auch daraus eine Stärke zu machen. Die eigentliche Absicht des Kanzlers ist es, bei den unzähligen Richtungswechseln, die eine immerzu hektische Politik notwendigerweise vollzieht, nicht als Getriebener, sondern als Treiber wahrgenommen zu werden. Der Erste zu sein, der eine neue Seite aufschlägt. Selbst wenn es sich nur um ein kurzes Unterkapitel handelt. Das ist oft eine Stärke und manchmal eben eine Schwäche. Die Entschlossenheit angesichts der ersten Corona-Welle führte Kurz in den Umfragen in die Nähe einer Absoluten, mangelnde Vorbereitung auf die zweite und dritte Welle in Verbindung mit politischen Kalamitäten ganz anderer Art erdeten den Überflieger als Politiker aus Fleisch und Blut.
Als begnadeter Stimmungsfahnder hat der Kanzler früh im Frühjahr die Sehnsucht nach einem "Sommer wie damals" gespürt - und sich einmal mehr an deren Spitze gesetzt. Angesichts der stark gesunkenen Ansteckungszahlen fiel damit die rechtliche Grundlage für massive Einschränkungen weg.
Das Problem ist nur: Die aktuell stark steigenden Zahlen waren angesichts der Öffnungen und der Delta-Variante absehbar. Selbst Kurz ist stets für Sommer und Herbst davon ausgegangen. Nicht einmal seine Einschätzung, die Pandemie wandle sich von einem gesellschaftlichen Problem zu einer Sache der individuellen Verantwortung, ist im Kern falsch. Sie wird stimmen, irgendwann, vielleicht im Herbst, vielleicht erst im kommenden Frühjahr, nur jetzt noch nicht.
Staat und Politik können sich noch nicht aus der Pandemie verabschieden. So war von Anfang an klar, dass bei ausreichend verfügbarem Impfstoff nicht das Problem sein würde, die erste Hälfte der Menschen zu immunisieren, sondern die zweite - und hier insbesondere das letzte Drittel. Doch erst jetzt beginnen die Initiativen und Experimente, um das zu schaffen.
Das Gleiche gilt für die Ausrollung flächendeckender PCR-Tests außerhalb Wiens: Auch hier kommt zu spät Bewegung hinein. Und wie mit Kindern unter zwölf Jahren umzugehen ist, für die es noch gar keine Impfung gibt, ist überhaupt völlig offen. Bis diese Aufgaben erledigt sind, müssen Mensch und Politik die Wucht der vierten Welle brechen. Mit fein austarierten Tanzschritten, nicht mit dem Hammer. Und irgendwann wird der Kanzler dann recht gehabt haben.