Österreich ist erstmals nicht in allen EU-Ländern mit Botschaften vertreten und verliert damit Einfluss in der EU.
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Wien. Michael Linhart ist schwierige Aufgaben gewohnt, etwa als außenpolitischer Berater von Wolfgang Schüssel im ersten Jahr der schwarz-blauen Regierung. Der Freitag vorvergangener Woche zählte wohl dennoch zu den unangenehmeren Arbeitstagen in der Karriere des jetzigen Generalsekretärs im Außenministerium (BMEIA). Linhart muss den Botschaftern von Estland, Lettland und Litauen mitteilen, dass Österreich seine Vertretungen in den drei baltischen Staaten schließen wird - sowie auf Malta. Das Zeitfenster ist extrem schmal: Bereits kurz vor 13 Uhr läuft eine entsprechende Meldung der Austria Presse Agentur über die Ticker, gesperrt bis 17 Uhr. Darin erklärt Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) die Schließung und verkündet die Neuausrichtung seines Ressorts.
Eilig veröffentlicht
Währenddessen versucht das Amt fieberhaft, die Botschafter zu informieren. Es gilt, die größtmögliche Blamage zu vermeiden: dass die Länder aus den Medien von Kurz’ Schritt erfahren. Bloß befindet sich Loreta Zakareviciene, Botschafterin Litauens, zu diesem Zeitpunkt nicht in Österreich. Linhart lädt daher Jurate Losiene ein, Geschäftsträgerin der litauischen Vertretung aufgrund des Urlaubs der Botschafterin. Auch die estnische Botschafterin Eve-Külli Kala ist nicht in Österreich. Den lettischen Botschafter Edgars Skuja trifft Linhart Freitagnachmittag in Graz. Zu diesem Zeitpunkt weiß Skuja bereits vom lettischen Außenministerium über den Abzug.
Schlechte Nachrichten und noch dazu so kurzfristig. Österreichs Diplomatie macht an jenem Freitag eine denkbar ungünstige Figur. Die Entscheidung zur Schließung der Botschaften sei "in den letzten Tagen" vor Bekanntgabe gefallen, sagt Kurz-Sprecher Gerald Fleischmann zur "Wiener Zeitung". Wann genau, lässt er offen. Ungeklärt bleibt auch, warum es Kurz so eilig hat, seine Entscheidung öffentlich zu machen, anstatt zuerst in Ruhe den Kontakt zu den betroffenen Ländern - Lettland hat zu diesem Zeitpunkt sogar die EU-Ratspräsidentschaft inne - zu suchen.
Für den Außenminister geht es um mehr als vier Botschaften: "Redimensionierung in der EU und Stärkung des Vertretungsnetzes in politisch wesentlichen Regionen sowie Wachstums- und Innovationszentren in der Welt", nennt es Kurz. Hinter der sperrigen Devise steckt der Rotstift. 39 Millionen Euro will das Ministerium ab jetzt bis 2019 einsparen.
"Outputorientierte" Reform
Während im Baltikum die Türen zugehen, eröffnet man in Weißrussland, der Republik Moldau und Georgien, zudem in Singapur und Katar. Im Silicon Valley, der Heimat von Apple, Google, Facebook & Co., soll künftig je ein Vertreter des Außen- und des Wissenschaftsministeriums sowie der Wirtschaftskammer vor Ort sein. Und in China wird es ein weiteres Generalkonsulat geben: "Jedes Konsulat bringt einen wirtschaftlichen Mehrwert. Es werden mehr Visa ausgestellt, es kommen mehr chinesische Touristen", sagt Kurz. "Outputorientiert", nennt das sein Sprecher.
Ob die Botschaften im Baltikum bereits vor 2018 geschlossen werden könnten? Ist offen.
Welche Agenden von Wien oder der ins Spiel gebrachten schwedischen Hauptstadt Stockholm für das Baltikum wahrgenommen werden? Ist offen.
In welcher Frequenz die extern stationierten Diplomaten im Baltikum sein werden? Ist offen.
Ob die neuen Botschaften in Weißrussland, der Republik Moldau und Georgien bereits vor 2018 eröffnet werden? Ist offen.
Feststehe hingegen, dass die baltischen Länder und Malta auf den letzten Rängen bei den Faktoren "konsularischer und wirtschaftlicher Output liegen", so Fleischmann. Das seien die Hauptaspekte der Entscheidung gewesen, zudem die sicherheitspolitische Dimension. "Ich glaube, dass die russische Bedrohung in Georgien wesentlich präsenter ist", sagt Kurz mit Verweis auf die baltischen Staaten, die EU- und Nato-Mitglieder sind. Theoretisch sind sie durch die Beistandspflicht, die das Verteidigungsbündnis seinen Mitgliedern garantiert, geschützt. Praktisch weiß Russland dank hybrider Kriegsführung - darunter Desinformationskampagnen und verdeckte Operationen - seine Nadelstiche auch unterhalb jenes Nato-Artikels Nummer 5 zu setzen.
Demokratiepolitische Überlegungen spielten demnach keine Rolle; und im Vergleich mit den baltischen Ländern zählt der Rechtsstaat in Georgien, der Republik Moldau und Weißrussland weniger bis nichts.
Bei der Evaluierung waren laut Fleischmann das Generalsekretariat, die Sektionschefs und die Personalvertretung des Außenministeriums eingebunden. Die Letztentscheidung lag bei Sebastian Kurz. Der Ressortchef stößt damit einen Grundsatz der österreichischen Außenpolitik seit dem Beitritt zur Europäischen Union um. Denn niemand Geringerer als die heutige ÖVP-Ikone Wolfgang Schüssel gab als Außenminister in den 90ern die Devise aus, Österreich müsse in jedem Mitgliedsland vertreten sein.
Das hat gute und praktische Gründe, etwa die Qualität der Informationen über die Länder. Aktuelles Beispiel: Angesichts der Migrationsströme in die EU hat das Außenministerium von den Botschaften Berichte über die Politik in den Empfangsstaaten erbeten, von der Zahl der Flüchtlinge über die Atmosphäre in der Bevölkerung gegenüber den Asylwerbern bis zu den Positionen der politischen Parteien. Dank jener Dossiers kann die Regierung, die für eine Quotenregelung zur Verteilung der Flüchtlingsströme eintritt, besser einschätzen, aus welcher Perspektive Gegner der Regelung argumentieren. Solche Informationen sind in ihrer Breite und Tiefe nicht einfach via Internet abrufbar. Außerdem schafft das Wissen um die Positionen anderer Staaten wiederum bei diesen Ansehen. Auf diese Weise können politische Initiativen Österreichs - und das trotz der Kleinheit des Landes - in Europa formuliert, argumentiert und durchgesetzt werden.
Lobbying von unten
Die Botschaften sind also zentral für das Lobbying österreichischer Positionen in der EU. Die dort stationierten Diplomaten sind nicht nur mit Ministern der jeweiligen Regierung in Kontakt, sondern auch mit deren Beamten, welche ihre Ressortchefs zu Themen briefen. Man muss also die Kontakte in den unteren Ebenen pflegen, um oben gehört zu werden. Fragt man jedoch Kurz-Sprecher Fleischmann, wie der drohende Informationsverlust kompensiert werden kann, lautet die Antwort: "Der Minister wird mit seinem Amtskollegen telefonieren."
Ob Kurz’ situationsgebundene Telefon-Diplomatie eine permanente Botschafts-Präsenz ersetzen kann, wird sich in Zukunft zeigen. Befürworter einer Ausdünnung der Vertretungen argumentieren, die Minister sähen einander in Brüssel regelmäßig und könnten Probleme auf kurzem Wege besprechen. Dagegen steht, dass die Ressortchefs bereits von ihren Beamten gebrieft erscheinen. Kritiker bezweifeln daher, dass ein Minister plötzliche bilaterale Überzeugungsarbeit leisten kann, noch dazu angesichts der stets übervollen Terminkalender in der Runde der 28 Kollegen.
"Wir sind definitiv nicht glücklich", sagt einer jener Amtskollegen, der litauische Außenminister Linas Linkevicius, dass die österreichische Botschaft in Vilnius geschlossen wird. "Aber es wird unsere Kooperation in der Zukunft nicht beeinträchtigen", versucht Linkevicius gegenüber der "Wiener Zeitung" zu beschwichtigen. Was der Minister nicht sagt: Es ist eine Partnerschaft auf bescheidenem Niveau. 2011 zog Litauen seinen Botschafter aus Österreich ab. Auslöser war der Russe Michail Golowatow, der in Litauen als Kriegsverbrecher gesucht wird. Er war 1991 Kommandant einer KGB-Spezialeinheit, die den TV-Turm in Vilnius stürmen wollte, um die Unabhängigkeitsbestrebungen des Landes zu desavouieren. 14 Bürger starben damals. Trotz eines Europäischen Haftbefehls ließ Österreich Golowatow, der 2011 am Flughafen Wien-Schwecht kurzzeitig festgenommen wurde, wieder frei - und sorgte für Empörung in Litauen. Erst seit September vergangenen Jahres ist das Land wieder mit einer Botschafterin in Wien vertreten.
Während Litauens Außenminister versucht zu kalmieren, ist der lettische Botschafter in Österreich, Edgars Skuja, in seiner Kritik deutlicher: "Im Moment planen wir keine Gegenmaßnahmen, zumindest nicht, solange Österreich noch in Lettland präsent ist. Aber die Slowakei hat eine Botschaft in Riga, also könnte man die Verlegung der Botschaft von Wien nach Bratislava andenken." Bisher sind alle EU-Länder mit einer Botschaft in Wien vertreten - auch weil die Stadt Sitz vieler internationaler Organisationen ist, allen voran UNO und OSZE.
Klein, aber gewichtig
Einiges an Porzellan ist also bereits zerschlagen. Und unterschätzen sollte man die Bedeutung der baltischen Länder auch nicht. Denn gleich, ob sie klein sind und der Außenhandel zwischen ihnen und Österreich mäßig ist: Wenn es um Abstimmungen auf EU-Ebene geht, ist Österreich bei einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren möglicherweise auch auf die Stimmen von Estland, Lettland und Litauen angewiesen. Im Rat der Europäischen Union gilt die doppelte Mehrheit ab 2017 vollständig. Für einen Beschluss ist sowohl die Mehrheit der Mitgliedstaaten (55%) als auch die Mehrheit der Unions-Bevölkerung (65%) notwendig. In der Kategorie der Mitgliedsstaaten gilt das Prinzip ein Land, eine Stimme; 1,3 Millionen Esten zählen genauso viel wie 80 Millionen Deutsche. Doch ausgerechnet in der jetzigen prekären Lage der Union schwächt Österreich seine Position in der EU.