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Sebastian Kurz wuchs mit Migranten in Meidling auf. Heute will er nichts mehr davon wissen.
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Sebastian Kurz ist ein Schwabo. Migranten verwenden den Begriff als Bezeichnung für Ur-Österreicher. Ob er abwertend oder anerkennend gemeint ist, hängt von der Wertschätzung ab. Unter Freunden gilt er als kumpelhafter Gruß, als liebevolle Zuschreibung, als gemeinsamer Schulterschluss gegen ein Wort, das so wie seine Pendants Tschusch und Ausländer einen Keil in die Gesellschaft treibt.
Sebastian Kurz war so ein Freund. Er wuchs unter Migranten im 12. Wiener Bezirk Meidling auf. Viele seiner Mitschüler kamen nicht aus Österreich, einige waren Flüchtlinge. Sie lernten gemeinsam, schlugen sich die Nächte um die Ohren, kannten ihre Familien. Gerne erzählte Kurz von dieser Zeit, als er mit 24 in die Politik einstieg. In der Bundesregierung wird er als Integrationsstaatssekretär ihr Sprachrohr. "Wir haben zu wenig Willkommenskultur", "Wenn man etwas leistet, ist es egal, wo man herkommt", "Der Islam gehört zu Österreich", sagte er. Das war erfrischend, das war neu in der ÖVP, neu in einer österreichischen Bundesregierung.

Doch Sebastian Kurz hat sich verändert. Wenn er heute von Migranten spricht, dann sind es Menschen, die in "unser Sozialsystem" zuwandern. Flüchtlinge will er sogar zu Zwangsarbeit verpflichten. Für ein Taschengeld sollen sie putzen und "in der Gemeinde aushelfen". Die gemeinsamen Geschichten aus seiner Meidlinger Jugend spart er sich hingegen. Sie haben keinen Platz mehr in der "neuen Volkspartei", die er anführt. Lieber erzählt er von seinen Wochenenden auf dem großelterlichen Bauernhof im Waldviertel. "Die Willkommenskultur war falsch", sagt er nun.

Was hat sich seit damals verändert? Warum kehrt ein junger Politiker, der alles neu machen will, zu alten Mustern zurück? Eine Spurensuche vom Meidlinger Burschen zum Messias der konservativ-bürgerlichen ÖVP.
ÖVP in der Minderheit
Angegraut sind die beigen Farben des Wohnblocks, in dem Sebastian Kurz auf Stiege 9 aufwuchs. Ein paar Bäume bringen etwas Farbe in die graue Straße. Beton und Autos dominieren. Ums Eck gibt es ein Wirtshaus, eine Trafik, einen Reifenhändler und ein Solarium. Wer eine Klischee-Gegend für einen Arbeiterbezirk sucht, findet sie hier. Fest in roter Hand ist dieser Teil von Meidling. Gut ein Drittel der Bewohner wählt SPÖ, ein paar weniger FPÖ, kaum jemand ÖVP. Dass der ÖVP-Kanzlerkandidat hier seine Kindheit und Jugend verbrachte, ist ungewöhnlich. Noch heute wohnt er auf derselben Stiege, jedoch in einer anderen Wohnung als seine Mutter, eine AHS-Lehrerin, und sein Vater, ein HTL-Lehrer.
Ein paar Gassen weiter ging Kurz zur Schule ins Gymnasium Erlgasse. "Er war sehr höflich, sehr sozial. Ein angenehmer Schüler", sagt sein Geschichtelehrer Martin Neubauer. 2004 hat Kurz bei ihm maturiert. Sein selbst gewähltes Spezialgebiet: Politische Parteien in der Zeit Kaiser Franz Josefs. "Er musste Parteiprogramme lesen und eine Rede aus der Sicht eines französischen oder deutschen Offiziers zum Vertrag von Versailles halten", erzählt Neubauer.

In die Schulzeit von Kurz fiel der kriegerische Zerfall Jugoslawiens. Hunderttausende Menschen flüchteten nach Österreich, viele von ihnen nach Wien. Ihre Kinder gingen in Schulen wie die Erlgasse. Schulen, die in weniger privilegierten Gegenden liegen. "Die Schule ist immer ein Spiegel der politischen Ereignisse gewesen", sagt der Geografielehrer von Kurz, Edwin Fichtinger. "In den Achtziger Jahren kamen Iraner und Polen, später waren es Tschetschenen und Jugoslawen", erinnert er sich. Doch nicht nur, dass Sebastian Kurz mit ihnen die Schulbank drückte. Seine Eltern haben Flüchtlinge sogar aufgenommen. Kurz teilte also auch seine Wohnung mit ihnen.
Fichtinger erzählt von dem Junior-Unternehmen, das Kurz mit Mitschülern im Rahmen des Unterrichts gründete. Es ging um Sozialprojekte für Kinder im Hort-Nachmittag. Gemeinsam kochen, Spiele entwickeln und spielen. Er zeigt Fotos, auf denen sein ehemaliger Schüler mit Mittelscheitel und Krawatte zu sehen ist. Er lächelt: "Er hat Wirtschaft in der Praxis gespielt. Und es funktionierte", sagt der Lehrer. In der Firma spielte die Herkunft der Schüler keine Rolle. "Das war kein Thema", erklärt er.
Versteckt im Arbeiterbezirk
Die Berufswahl seines Lieblingsschülers war in dieser Zeit noch offen. "Ich habe geglaubt, er geht in die Wirtschaft, weil er mit der Schülerfirma so erfolgreich war", sagt Fichtinger. Doch Kurz entscheidet sich nach der Matura für die Politik. Nebenbei inskribiert er für Jus, ein Studium, das er nie beendet.
Als Erstes klopft er bei der ÖVP in Meidling an, die jedoch kein Interesse zeigt. In der Bezirksorganisation Innere Stadt hat er hingegen Erfolg. Der heutige Bezirksvorsteher Markus Figl nimmt ihn unter seine Fittiche. Er verbessert die ersten Texte, schreibt sie um, schult ihn in Rhetorik. Doch Kurz will mehr. Er meldet sich in der parteieigenen Politischen Akademie. Sie befindet sich nur wenige Gassen von seiner Wohnung entfernt.
Unscheinbar, versteckt ist der Eingang zu dem weitläufigen Areal, auf dem sich die Kaderschmiede der Partei befindet. Drei Schilder weisen auf Videoüberwachung, Hundeverbot und Privatgrund hin. Ein betonierter Weg führt zu einer großflächigen Wiese mit meterhohen Ahornbäumen und Schwarzkiefern. Auf einer Anhöhe steht das Springer-Schlössl, eine Villa aus dem 19. Jahrhundert. Hier wird Kurz zum kompletten Politiker geformt.
"Anders, als viele andere, die damals zu mir kamen, schnorrte Sebastian Kurz nicht einfach um Geld, sondern stand mit drei Projekten da", erinnert sich Dietmar Halper an die erste Begegnung. "Er fragte mich, ob wir sie nicht gemeinsam umsetzen wollten." Das hat Halper imponiert. Seit Februar 2008 leitet der Jurist die Politische Akademie. Vom damaligen Parteichef Wilhelm Molterer bekam er den Auftrag, die Nachwuchsorganisation wieder an die ÖVP heranzuführen. Ein Auftrag, den er vom ersten Tag an konsequent verfolgte.
Händefuchteln und Würfelzucker
Halper führt durch das Gebäude. Säle mit Blick in den Park, die nach Parteigrößen wie Leopold Figl, Julius Raab und Leopold Kunschak benannt sind. Schwungvolle Stiegenaufgänge, holzvertäfelte Wände, Kristallluster. Junge Frauen mit geglätteten Haaren, einfärbigen Blusen, darüber Sakkos, und junge Männer mit Kurzhaarschnitten, weißen Hemden und maßgeschneiderten Hosen huschen durch die Gänge.
Der feste Händedruck vom Wiener Law&Order-Obmann Gernot Blümel, die Show mit dem Würfelzucker des innovativen Wirtschaftsministers Harald Mahrer, das Händefuchteln von Sebastian Kurz, das von seiner hohen Stimme ablenken soll. Sie alle bekamen auf der Akademie den letzten Schliff. Und übernahmen von hier die Führung in der Partei. Als die ÖVP vor vier Jahren die Wahl verlor, begannen sie Strategien für die Erneuerung zu erarbeiten. Darunter ein neues Parteiprogramm mit dem Titel "Evolution Volkspartei". Rasch stiegen sie die Parteileiter hoch. Heute ist Kurz Kanzlerkandidat, Blümel Wien-Chef, Mahrer Wirtschaftsminister. Und Halper wurde zur grauen Eminenz im Hintergrund.
"Es geht in der Politik um den Flow", sagt er. Reinhold Mitterlehner, Vorgänger von Kurz, war nach anfänglichen Spitzenwerten schnell verbraucht. "Es gab kein gemeinsames Regierungsprojekt. Und deshalb keinen Erfolg. Das hat geschadet", erklärt Halper. Dass intern an Mitterlehners Sessel gesägt wurde, sagt Halper nicht. Mitterlehner kapitulierte schließlich und trat im Mai zurück. Kurz übernahm. Die Machtübernahme war von langer Hand geplant. Er installierte Justizminister Wolfgang Brandstetter als Vizekanzler und rief Neuwahlen aus. Es wird Brandstetters letzter Regierungsposten sein.
Weiters verpasste Kurz der Partei ein neues Statut und färbte sie von Schwarz auf Türkis um. Seine Strategie bis zur Wahl: Größtmögliche Distanz zum Regierungsalltag mit dem roten Koalitionspartner, so wenig wie möglich Verbindung mit der verzopften Altpartei ÖVP. Die Taktik geht vorerst auf. In Umfragen liegt Kurz weit vor den Herausforderern Christian Kern (SPÖ) und Heinz-Christian Strache (FPÖ). Es läuft für Kurz. Er ist im Flow. Dietmar Halper ist zufrieden.
Bruno Kreisky als Wahlhelfer von Kurz
Die von der Akademie gesteuerte Erneuerung setzt Sebastian Kurz bis ins Detail um. Kein Auftritt, bei dem das Wort Neu nicht überdimensional präsentiert wird, kein Auftritt bei dem er nicht verspricht, dass alles anders werden wird. In Interviews sagt er: "Es ist so abgelaufen, wie es immer in Österreich abläuft. Das kann nicht funktionieren, soll nicht funktionieren, brauchen wir ohnehin nicht." Das weckt Hoffnungen in der Partei. In ÖVP-Kreisen sieht man ihn bereits als größten Reformer seit Joseph II., der Habsburger Kaiser hob im 18. Jahrhundert etwa die Leibeigenschaft der Bauern auf.
Auch bei den Wählern kommt der Stil an. Es sind vor allem junge Wähler, die genug haben von der älteren Generation, die es sich auf Kosten der Jungen gemütlich gemacht haben. Junge Wähler, die befristet angestellt werden, während die Generation Kreisky auf ihren Privilegien sitzen bleibt und damit den Jungen den Weg erschwert. Kurz ist der erste Politiker, dem es hilft, wenn sich die SPÖ auf ihren roten Heiland beruft.
Parteimitglieder, junge Wähler, sie alle glauben, dass es Kurz als Bundeskanzler besser machen wird. Doch wird er das? Oder ist ihm jede Inszenierung, jede Erzählung recht, um an die Spitze zu gelangen?
"Ein erfolgreicher Politiker muss ein Gefühl für die Grundstimmung im Land haben", sagt Halper. "Und mit dieser Stimmung ist zu arbeiten." Der Politiker muss sich also danach richten, in welche Richtung das Pendel gerade ausschlägt. Das erklärt auch die radikale Wende von Sebastian Kurz in der Frage der Zuwanderung. Für den Kanzlerkandidaten gilt es nun Stimmen von rechts zu holen.
Die radikale Wende des Kanzlerkandidaten
Mantraartig wiederholt Kurz bei jedem Auftritt vermeintlich negative Auswirkungen von Zuwanderung. Sogar bei einem Zwei-Minuten-Auftritt beim Erntedankfest im Augarten, wo es eigentlich um den Ertrag der Landwirtschaft geht, hält er daran fest: "Die ungesteuerte Migration führt zu Unordnung in unserem Land", sagt er. Dass Migranten mehr in das Sozialsystem einzahlen, als sie herausbekommen, scheint genauso egal zu sein, wie die Tatsache, dass er als Jugendlicher mit ihnen die Schulbank gedrückt hat und sogar eine Firma gründete.
Ist Kurz also der bessere Strache? Dietmar Halper schüttelt den Kopf: "Ich verwehre mich dagegen, dass er ein rechter Politiker ist. Er hat nur seinen Standpunkt nachgeschärft bei der Flüchtlingskrise."
"Ich brauche jemanden, der im urbanen Feld groß geworden ist, der weiß, was Integration heißt", sagte ÖVP-Parteichef Michael Spindelegger bei der Vorstellung von Kurz als Integrationsstaatssekretär. Das war im April 2011. Kurz heuerte dutzende prominente Migranten aus Sport, Wirtschaft und Kultur an, die als Botschafter durch die Schulen gingen. Sie sollten Vorurteile abbauen und jungen Migranten zeigen, dass sie es nach oben schaffen können. "Zusammen Österreich" hieß die Initiative, das Leuchtturmprojekt des damaligen Jungpolitikers.
Kurz erfüllte die Vorgabe Spindeleggers, bis er zum Kandidaten für das Kanzleramt wurde und in seiner Migrantenpolitik die Richtung änderte. Viele Botschafter wandten sich daraufhin von ihm ab. "Ich habe das Gefühl, da ist nix mehr dahinter. Man fühlt sich verarscht", sagte der syrisch-österreichische Thai-Box-Weltmeister Fadi Merza in einem Interview mit dem Magazin "Profil".
"Sebastian Kurz ist ein Politiker, der sich angeblich für die Versachlichung der Integrations-Debatte einsetzen wollte", sagt Politikbeobachter und Agenturchef Dino Sose. "Heute sehen wir sehr deutlich, dass das eine Lüge war." Der Organisator der Integrationswoche, des größten Integrations-Events in Österreich, erklärt: "Er mutierte zu einem klassischen Populisten, der gegen Benachteiligte in unserer Gesellschaft hetzt. Es geht ihm nicht um Menschen, um Freundschaften, sondern um Macht und um sein persönliches Ego." Er habe anfangs tolle Arbeit geleistet, war sehr geschätzt in den Migranten-Communitys. "Das Vertrauen hat er nun verloren", sagt Sose.
Zurück in Meidling. Ein Besuch im Christine-Busta-Park. Jugendliche Migranten sitzen auf einem Klettergerüst. Ein kurzes Gespräch, dann die Frage, ob sie etwas zu Sebastian Kurz sagen wollen, der in der Gegend aufgewachsen ist. "Nein danke", sagen sie. "Und bitte keine Namen nennen und nicht fotografieren. Sonst schiebt er uns noch ab."
Sebastian Kurz ist ein Schwabo. Und das nicht mehr im guten Sinne.