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KZ Dachau: Den Opfern ein "Gesicht" geben

Von Rudolf Leo

Wissen
Dachau war das einzige Konzentrationslager, das während der gesamten NS-Herrschaft bestand.
© Leo

Ein Buch erinnert mittels biografischer Skizzen und Fotos an die 150 Opfer des ersten Transports im April 1938.


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Am 22. März 1933 wurde das Konzentrationslager Dachau in den Gebäuden einer stillgelegten ehemaligen Königlichen Pulver- und Munitionsfabrik eröffnet. Laut der Presseerklärung des damals neu ernannten Münchner Polizeipräsidenten Heinrich Himmler verfügte dieses "erste staatliche Konzentrationslager" über ein "Fassungsvermögen von ca. 5000 Häftlingen".

Dachau wurde zum Prototyp des nationalsozialistischen Repressionsapparates. Dessen KZ-System ermöglichte einen von der Justiz unabhängigen Zugriff auf die persönlichen Freiheiten und die physische Liquidierung praktisch jeder beliebigen Person bei permanenter Suspendierung bürgerlicher Freiheiten. "Ohne die Konzentrationslager hätte sich die Gestapo niemals zu der mächtigsten Terrororganisation entwickeln können, deren bloße Erwähnung schon Entsetzen hervorrief", schreibt der tschechische Historiker und Zeitzeuge Stanislav Zámečník, von 1941 bis 1945 Häftling im KZ Dachau, im 2005 erschienenen Katalog zur Ausstellung "Konzentrationslager Da-chau 1933 bis 1945". Dachau war das einzige Konzentrationslager, das während der gesamten zwölf Jahre der NS-Herrschaft bestand.

Die ersten Häftlinge im KZ Dachau waren deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten, später wurden auch Funktionäre der bürgerlichen Parteien interniert. Ab 1936 nahm der Anteil der jüdischen sowie der nicht-politischen Häftlinge beträchtlich zu.

Heinrich Himmler sah in den Konzentrationslagern nicht nur einen Ort zur Inhaftierung von Gefangenen, sondern eine Machtbasis und wirtschaftliche Grundlage der SS sowie eine - auf der Grundlage der Sklavenarbeit der Häftlinge aufgebaute - Produk-tionsstätte für die gigantomanischen Projekte der Nationalsozialisten und später für die Kriegsindustrie. Die Schutzhaft wurde daher sukzessive auf unpolitische Pseudodelikte ausgeweitet, die durch Brandmarkung der "Täter" u.a. als "Volksschädlinge", "Bettler", "Zigeuner", "Arbeitsscheue" oder "Landstreicher" und mit Phrasen über die "Notwendigkeit der Rassenhygiene" nachträglich politisiert wurden.

Noch bevor die ersten Wehrmachtsverbände die österreichische Grenze überschritten, waren schon in den frühen Morgenstunden des 12. März 1938 deutsche Polizeikräfte unter der Führung von Reichsführer SS Heinrich Himmler mit dem Flugzeug in Wien gelandet. Zu den ersten Aufgaben dieser Polizeieinheit gehörte die Verhaftung von prominenten NS-Gegnern, Mitgliedern und hohen Beamten der Regierung Schuschnigg und Angehörigen der illegalen Arbeiterbewegung.

Zur Koordinierung der Verhaftungen begann Himmlers Stab ab dem 18. März mit dem Aufbau einer großen Gestapoleitstelle in Wien, die ihren Sitz im Hotel Métropole am Morzinplatz bezog. Bis Monatsende wurde aus den bis dahin Verhafteten eine Liste von 150 Personen zusammengestellt, die im Polizeigefangenenhaus Rossauerlände an der Elisabethpromenade im 9. Bezirk (im Volksmund "Liesl" genannt) konzentriert und am Abend des 1. April zum Westbahnhof gebracht wurden, von wo der Zug nach Dachau abfuhr.

Unter den in das dortige Konzentrationslager verschickten Männern befanden sich unter anderem hochrangige Funktionäre der österreichischen Regierungspartei Vaterländische Front, aber auch deren politische Gegner: Sozialdemokraten und Kommunisten, sowie eine größere Gruppe bekannter jüdischer Wirtschaftstreibender und Künstler.

Diese Zusammensetzung des Transports war der Grund für die in weiterer Folge eingebürgerte Bezeichnung "Prominententransport". Es war darin aber nicht nur das gesamte politische Spektrum des damaligen Österreich vertreten (u.a. Leopold Figl, Alfons Gorbach, Robert Danneberg, Viktor Matejka), sondern auch Menschen, deren "Verbrechen" darin bestand, Juden zu sein. Stellvertretend für die insgesamt 63 Juden im Transport sind hier nur einige Namen angeführt: Gebrüder Burstyn, Schriftsteller Fritz Löhner-Beda, Kunsthändler Wilhelm Kurtz, Gewürzefabrikant Johann Kotányi, Verleger und Zeitungsherausgeber Paul Kolisch, Sportjournalist Maximilian Reich.

Insgesamt wurden im Jahr 1938 rund 8000 ausschließlich männliche Österreicher in das KZ Dachau eingewiesen. Unter jenen, die den KZ-Terror überlebten, haben viele die Zweite Republik mit aufgebaut. Der nach 1945 oft beschworene "Geist der Lagerstraße" - das, bei allen politischen Gegensätzen, gemeinsame Bekenntnis zur demokratischen Republik Österreich - bezog sich auf die gemeinsame Haft-Erfahrung der einstigen weltanschaulichen Gegner, die als politische Häftlinge im KZ Dachau einsaßen.

"dachaureif" lautete nach dem "Anschluss" eine Kategorie im Bewertungsbogen der Gestapo zur Beurteilung von 444 Gendarmen des Landes Salzburg "während der Kampfzeit der NSDAP". Diese Bewertung erfolgte in Form einer namentlichen Auflistung der Gendarmen mit personenbezogenen Daten sowie Informationen zu deren Dienststelle und Dienstgrad sowie zu deren politischer und persönlicher Einstellung.

"Gesinnungsschwein"

Als positive Attribute wurden u. a. angeführt: "korrekt", "nicht gehässig", "keine Übergriffe" (d.h. auf illegale Nationalsozialisten vor dem "Anschluss"), "anständig und charaktervoll", "gewissenhaft". Negative Attribute waren u.a.: "dienstlich schwach", "unfähig", "in nationalen Kreisen nicht geachtet", "Drückeberger", "Deutschenhasser", "Gesinnungsschwein", "pensionsreif", "unkameradschaftlich", "moralisch und geistig minderwertig", "Jesuit", "wird von Gestapo bereits behandelt" - und: "dachaureif".

Die im Bewertungsbogen so apostrophierten Gendarmen mussten damit rechnen, in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert zu werden.

In dem gerade erschienenen Buch ",dachaureif‘. Der Österreichertransport aus Wien in das Konzentrationslager Dachau am 1. April 1938" werden alle Opfer dieses ersten Transports in biografischen Skizzen und - soweit verfügbar - mit Abbildungen porträtiert. Stellvertretend zwei Fallbeispiele der insgesamt 150 Österreicher. Die Beispiele wurden ausgewählt, um zu dokumentieren, wie dramatisch die Lebenswege der Opfer nach der Entlassung - sofern sie überlebt haben - aus dem Konzentrationslager mitunter verliefen.

GERÖ Josef Dr.

Josef Gerö, Dokument, 1947.
© Picasa

Geboren am 23. 09. 1896 in Maria Theresiopel/Subotica

Letzte Wohnadresse März 1938: Wien 7., Lerchenfelderstraße 13

Jurist

1926-1929: Staatsanwalt in Wiener Neustadt, anschließend in der Leopoldstadt

1927-1938: Präsident des Wiener Fußballbundes

Bis 1930: Referent für allgemeine Strafsachen

1931-1934: Referent für politische Strafsachen

1934: Personalreferent im Justizministerium, später Leitung der Abteilung für politische Strafsachen

1934-1938: als Staatsanwalt Mitwirkung an der Verfolgung von revolutionären SozialistInnen und Februarkämpfern

Ab 1936: Tätigkeit als Erster Staatsanwalt

Nummer auf der Gestapo-Liste: 103

Festnahme am 20. März 1938

02. 04. 1938: Einweisung in das KZ Dachau - Gefangenennummer: 13.873

Häftlingskategorie: "Schutzhaft - Jude"

22. 09. 1938: Überstellung in das KZ Buchenwald; nach insgesamt 16 Monaten Haft aufgrund einer Intervention des Wiener Fußballbundes freigelassen

August 1939: Flucht nach Jugoslawien, wo er in Zagreb als Prokurist in der Textilfirma seines Bruders arbeitete

Nach dem Überfall der Nationalsozialisten in Jugoslawien Gestapohaft im April 1941 sowie neuerlich ab 23. 06. 1944; Verpflichtung zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie

Ab 27. 04. 1945: Parteiloser - von der SPÖ nominierter - Staatssekretär (und anschließend Bundesminister) für Justiz bis 1949, bzw. nochmals 1952 bis 1954

20. 07. 1945: als erster österreichischer Akademiker Wiederverleihung des am 17. 06. 1942 aus rassistischen Gründen aberkannten Doktortitels

1949-1952: Präsident des Oberlandesgerichts Wien

1945-1954: Präsident des Österreichischen Fußball-Bundes sowie ab 1946 Präsident des Österreichischen Olympischen Comités.

Gestorben am 28. 12. 1954 in Wien

1973 wurde in Wien-Liesing die Gerögasse nach ihm benannt.

BURSTYN Nathan (Naftali)

Burstyn Nathan, Passbild
© Picasa

Geboren am 18. 04. 1904 in Nadwórna/Nadwirna

Letzte Wohnadresse im März 1938: Wien 3., Beatrixgasse 14a

Vertreter

Nummer auf der Gestapo-Lis-te: 12

Festnahme am 14. März 1938

02. 04. 1938: Einweisung in das KZ Dachau - Gefangenennummer: 13.918

Häftlingskategorie: "Schutzhaft - Jude"

31. 08. 1938: Überstellung in das Wiener Polizeigefangenenhaus, wo er bis 15. 03. 1939 inhaftiert blieb. Die Gestapo überstellte ihn an die polnische Grenze zur Abschiebung.

21. 06. 1940: Verhaftung durch die sowjetische Armee

23. 07. 1940: Überstellung in das Lager Karelka Pinska

25. 07. 1942: Überstellung in das Lager Archangelsk

1946: Überstellung nach Schlesien - offensichtlich als einer von vielen polnischen StaatsbürgerInnen, die in dieser Zeit aus der Sowjetunion in die ehemaligen deutschen Gebiete der wiedererstandenen Republik Polen umgesiedelt wurden. Von dort gelangte er auf unbekanntem Wege nach Haifa, wo er im September 1948 ankam.

 

Claudia Kuretsidis-Haider/Rudolf Leo: "dachaureif". Der Österreichertransport aus Wien in das Konzentrationslager Dachau am 1. April 1938. Biografische Skizzen der Opfer. Herausgegeben vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Wien 2019, 344 Seiten, 25 Euro.

Rudolf Leo, geboren 1962 im Pinzgau (Salzburg), lebt als Historiker und Autor in Wien.