Zweieinhalb Jahre lang war Sophie Siejak Gefangene in Auschwitz. Die Häftlingsnummer 29895 ist ihr in den linken Unterarm eintätowiert. Heute leidet die 83-jährige Polin an Herzbeschwerden und Krampfadern in den Beinen, die häufig einen Klinikaufenthalt notwendig machen. Dann lässt sich Sophie Siejak am liebsten im Gabriel-Narutowicz-Krankenhaus in Krakau behandeln, denn dort gibt es eine Spezialabteilung für ehemalige Häftlinge deutscher Konzentrationslager.
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"Wir versuchen hier, den NS-Opfern das Gefühl einer Familie zu geben, in der auf ihre speziellen Bedürfnisse eingegangen wird", sagt die Oberschwester Alina Poznanska. Auf der kleinen Station in einem modernen Nebengebäude des großen Krankenhauses im Krakauer Norden gibt es sechs Zimmer mit insgesamt 15 Betten. Zwei Ärztinnen, die Internistin Irena Durczok und die Neurologin Maria Filipetska, sowie zehn weibliche Pflegekräfte und ein Masseur sorgen für die individuelle Behandlung und Betreuung der betagten Patienten.
Finanziert wird die 1994 gegründete Krankenstation vom Maximilian-Kolbe-Werk in Freiburg - benannt nach dem katholischen Priester, der sich in Auschwitz freiwillig dem Hungertod auslieferte, um das Leben eines Familienvaters zu retten. Das Hilfswerk betreibt im südlichen Stadtzentrum von Krakau auch eine Ambulanz für KZ- und Getto-Überlebende. Dort stehen ihnen vier Internisten, Fachkräfte für Urologie, Rheumatologie und Physiotherapie sowie drei Krankenschwestern zur Verfügung.
Die Leiden der ehemaligen KZ-Häftlinge sind altersbedingt wie bei anderen 80-Jährigen auch. Doch können viele ihrer Beschwerden unmittelbar auf die Lagerzeit zurückgeführt werden. Gelenkentzündungen sowie Rücken-, Nieren- und Lungenerkrankungen sind meist die Folge von jahrelanger Zwangsarbeit und Unterernährung. Viel schlimmer noch sind die psychischen Probleme. Depressionen, Lebensunlust und Angstzustände sind typische Symptome des so genannten KZ-Syndroms, unter dem alle ehemaligen Häftlinge leiden.
So haben viele Patienten Angst, im Dunkeln zu schlafen, wie Oberschwester Poznanska erläutert. Bei ärztlichen Untersuchungen fürchten sie sich vor schmerzhaften medizinischen Experimenten. Im Fieberdelirium durchleben sie häufig noch einmal die Gewalttätigkeiten der SS-Schergen, und Anzeichen von Altersdemenz manifestieren sich oft darin, dass die Patienten wie einst im Lager Essensreste im Schrank verstecken. Hier ist eine hohe Sensibilität des Pflegepersonals erforderlich.
Dass die speziellen Bedürfnisse kranker NS-Opfer mehr Beachtung finden, ist auch das erklärte Ziel von Lee-Elisabeth Hölscher-Langner. Die Ehefrau des früheren deutschen Generalkonsuls in Krakau hat dort schon vor Jahren ein breites Netzwerk für die Unterstützung ehemaliger Häftlinge aufgebaut, die Hilfe im Alltag benötigen. Daran beteiligt sind mittlerweile die Dresdner Initiative Christen für Europa sowie das evangelische Hilfswerk Zeichen der Hoffnung, das die Betroffenen mit Essen auf Rädern versorgt. In den diversen Projekten werden auch Zivildienstleistende und Freiwillige aus Deutschland eingesetzt.
Ein wichtiger Partner für Hölscher-Langner ist das Polnische Rote Kreuz, denn in dessen Krankenhäusern und Pflegestationen werden viele NS-Opfer behandelt und versorgt. Regelmäßig besucht die engagierte Diplomatenfrau ehemalige Häftlinge auf der Palliativ-Station des Krakauer Rot-Kreuz-Krankenhauses, einer dauerhaften Pflegeeinrichtung, die von der Stadt Frankfurt am Main finanziell unterstützt wird. Dort übernimmt Hölscher-Langner auch selbst individuelle Pflegeaufgaben - bis zum letzten Atemzug der Patienten.
Da sie die Lebensgeschichte der Betroffenen meist gut kennt, konnte sie schon öfter vermittelnd eingreifen, wenn Ärzte und Pfleger nicht mehr weiter wussten. So gab es einen Klinikpatienten, der anscheinend ohne Grund plötzlich in ein Delirium fiel und wild um sich schlug. An seiner rechten Bettseite hing an einer Stahlstange ein Tropf, mit dem er ernährt werden sollte.
Da erinnerte sich Hölscher-Langner, dass der alte Mann ihr einmal geschildert hatte, wie er im KZ medizinischen Experimenten ausgesetzt war und immer mit einer Metallstange von rechts geschlagen wurde, wenn er die Versuchsmedikamente nicht einnehmen wollte. Daraufhin wurde die Stahlkonstruktion mit dem Tropf auf die linke Bettseite gestellt - und da fand der Patient seine Ruhe wieder.