Einmal im Jahr, wenn auf Djerba die Synagoge La Ghriba - "die Wundertätige" - ihre Tore für Tausende jüdische Pilger aus aller Welt öffnet, um das Lag Ba'Omer-Fest zu feiern, erscheint das verschlafene jüdische Städtchen Er Riadh (früher hieß es Haza Shgira, auf Deutsch "kleines Ghetto"), für wenige Tage in altem Glanz. Dann tummeln sich zwischen Synagoge, Karawanserei und dem dazwischen liegenden schmalen Gässchen die jüdischen Einwohner von Djerba, die Pilgrims und schaulustigen Touristen, um am 33. Tag nach Pessach das Freudenfest zu feiern. Auch die arabischen Freunde und Nachbarn fehlen nicht. Doch sonst ist es still geworden um die einst Tausende Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde von Djerba.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In der Karawanserei, wo früher, als die Insel noch keine Touristenhotels bot, die angereisten Pilger Unterkunft fanden, herrscht fröhliches Treiben. Bänke wurden aufgestellt, Dutzende Fähnchen aufgehängt und auch sonst ist der Hof am Hauptfesttag, der heuer auf den 29. April fiel, fein herausgeputzt. Es ist Wallfahrtzeit.
Auf einer kleinen Bühne spielen Musiker auf, es werden alte jüdische Lieder gesungen, zu denen die Männer im gleißenden Sonnenlicht tanzen und ihre Arme im Takt schwingen. Die Frauen klatschen im Rhythmus dazu. Mittanzen dürfen sie nach der streng orthodoxen Lebensweise der Gemeinde, die seit 2.600 Jahren auf Djerba lebt, nicht. Eine Blondine, die es dennoch wagt, wird vom Dorfältesten mit einem Fingerzeig zur Räson gebracht. "Männer haben schnell schmutzige Gedanken und Lag Ba´Omer ist immerhin ein religiöses Fest", erklärt einer der Gemeindemitglieder nachher einer protestierenden Frauenrunde. "Dafür gehen wir am Abend in die Disco, ok?".
Bazarstimmung
Inzwischen werden in der Karawanserei alte Reliquien versteigert, mit denen das jüdische Komitee den Erhalt der Synagoge finanziert. Erworben wird das Feilgebotene nur symbolisch, die Bestbieter bekommen aber immerhin einen prominenten Platz, wenn zum Höhepunkt der Omer-Begehung bei der festlichen Prozession die mit Goldbrokat verhüllte Thorarolle - angeblich eine der ältesten, die erhalten sind - von der Synagoge hinaus zum Dorf und wieder zurück ins Gotteshaus gebracht wird.
Davor entzünden in der "Wundertätigen" die Gläubigen, die Männer mit Kippa, die Frauen mit Kopftuch bedeckt, unter dem Thora-Bogen im Gedenken an ihre Toten eine Kerze und beten gemeinsam den Kiddush - unter dem Lärmwirrwarr aus dröhnenden Mobiltelefonen und regen Unterhaltungen - so ernst nimmt es hier keiner. Zur Liturgie wird häufig Bokha getrunken, ein koscherer Likör, der in Tunis gebrannt wird. An der Rückseite des Gotteshauses findet derweilen ein Spektakel der ganz anderen Art statt: der traditionelle Fruchtbarkeitsritus. Dabei werfen Frauen in eine von Kerzen beleuchtete Grotte unter der Synagoge, von der es heißt, dass sie einen Stein des Tempels von Salomon birgt, rohe Eier. Sie sollen den jungen Mädchen, deren Namen sie rufen, viele Kinder bescheren. Auch die Bitte um einen Lottotreffer soll sich manchmal in Tiefe der Höhle verirren. La Ghriba - die Wundersame erweckt Hoffnungen. Immerhin soll, so besagt eine der zahlreichen Legenden, an dem Ort, wo die 1920 erbaute neue Synagoge steht, vor 2.600 Jahren eine heilige Jungfrau einer Feuerbrunst getrotzt haben.
Keine Angst vor Terror
Vom Selbstmordanschlag, bei dem 18 Tage vor dem Pilgerfest ein Djerbi mit angeblichen Verbindungen zur El Kaida 18 Menschen, davon 13 deutsche Touristen, vor der Synagoge mit seinem mit einem Gasbehälter versehenen LKW in den Tod riss, zeugt der Tross von Polizisten, der das Gässchen und den Eingang zur Synagoge säumt. Auch vor dem Platz davor wachen Dutzende Polizeiautos. Die durch die Kamikazeaktion zerstörte Außenmauer des Synagogenareals wurde vor dem Fest feinsäuberlich renoviert, nichts sollte hier an die Hölle erinnern, die sich am Vormittag des 11. April abgespielt hat, die brennenden Urlauber und die verkohlten Leichen.
Da zu erwarten war, dass der Pilger- und Touristenstrom heuer gering ausfallen würde - wegen des Anschlags, aber auch in Folge des 11. September und der Nahostkrise - wurde die Wallfahrt, die normlerweise sieben Tage dauert, auf zwei reduziert. Gekommen sind gerade 500 Pilger, rund ein Zehntel der sonst üblichen Zahl. Zu Beginn der 90er Jahre, nach Abschluss des Osloer Friedensabkommens zwischen Israel und den Palästsiensern, wurden auch schon 10.000 gezählt. Damals kamen auch Israelis.
Die, die sich heuer herwagten, taten dies vorwiegend, um ein Zeichen zu setzen. Einer von ihnen war Abraham Breuer, Leiter der israelitischen Kultusgemeinde Graz und Obmann des jüdischen Kulturvereins in Wien. "Ich will eine Botschaft des friedlichen Zusammenlebens zwischen der jüdischen und der moslemischen Gemeinschaft überbringen", sagt Abraham, der deshalb auch gern die israelische neben der tunesischen Flagge von den Wänden über der Synagoge wehen sehen würde. Aber sei´s drum. Auf seiner mitgebrachten Violine stimmt er, nach einer kurzen Diskussion mit dem Komitee, im Hof das Lied "Jerusalem, Stadt des Goldes, Stadt des Lichtes" an. Die moslemischen Gäste nehmen´s gelassen. Wer wird sich hier um Jerusalem streiten! "Der Nahe Osten ist weit weg, wozu über Politik streiten", murmelt der moslemische Getränkeverkäufer, der hinter seiner Bude kauert und die Pilger mit Coca Cola und Mineralwasser versorgt. Wenig später ertönt während der Prozession im Chor ein "Lebe hoch" für den tunesischen Präsidenten Ben Ali, weil das staatliche Fernsehen filmt. Auch das kein Problem. Tunesien ist eben anders.
Tourismusminister Mondher Zenaidi, als Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Anschlags und der jüdischen Gemeinde eigens aus Tunis zum Lag Bar´Omer-Fest angereist, spricht am Abend beim Dinner von einem "Tag des Sieges Tunesiens über den Terrorismus". Tunesien sei ein Synonym für "Toleranz und friedliche Koexistenz", Eigenschaften, die manchen Kräften offenbar ein Dorn im Auge seien. Das Land werde alles unternehmen, um die Sicherheit weiter zu erhöhen.
Eine lange Geschichte
Die Gemeinde auf Djerba ist eine der ältesten der jüdischen Diaspora. Schon 2.600 v. Chr., nach der Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem durch den Babylonier Nebukadnezar 586 v. Chr., sollen sich den Überlieferungen zu Folge auf der Insel die ersten Juden angesiedelt und dort, wo heute die neue Synagoge steht, nach ihrer Ankunft ihr Gotteshaus errichtet haben. Um die Entstehungsgeschichte ranken sich zahlreiche Legenden.
Eine besagt, dass die Vertriebenen einen Stein des Salomon-Tempels mitbrachten und mit ihm den Grundstein für die "Wundertätige" legten. Heute ist von der alten Synagoge nur noch eine kleine Grotte übrig begblieben, auf die man vom Inneren des Geländes einen Blick werfen kann. Die neue Synagoge wurde 1920 erbaut. Viele Historiker bezweifeln, dass die alten Mauern 2.600 Jahre alt sind. Sie gehen davon aus, dass die ursprüngliche Synagoge im 1. Jahrhundert n. Chr., nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer, entstand, als die zweite Flüchtlingswelle aus dem heutigen Palästina einsetzte. Zwischen dem 15. und 17. strömten Tausende Juden aus Andalusien nach, die den Pogromen der christlichen Eroberer entkommen waren. Sie ließen sich in Er Riadh, so heißt der Ort Haza Shgira heute, oder in Haza Kebira, dem "Großen Ghetto", am Rande der Inselhauptstadt Houmt Souk, 6 Kilometer entfernt, nieder. Andere blieben in Tunis. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebten in Tunesien 120.000 Juden, 40.000 von ihnen auf Djerba.
Die Abwanderung
Nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 wanderten viele ins Gelobte Land aus oder schlugen nach der Unabhängigkeit 1956 ihre Zelte im reicheren ehemaligen Kolonialland Frankreich auf. In Tunesien geblieben sind gerade mal knapp 2000, rund 800 von ihnen leben hier auf Djerba, Tendenz sinkend; Er Riadh geht mittlerweile fast schon seinem Niedergang entgegen, nachdem von 300 Bewohnern binnen weniger Jahre 210 abgewandert sind, wie Trabelsi Perez, der 62-jährige Präsident des La-Ghriba-Komittees, gegenüber "Le Monde" verriet. Weg zieht es vor allem die Jungen. Ihnen ticken die Uhren auf Djerba, das außer kilometerlangen weißen Sandstränden, Palmen- und Olivenhainen, ein paar traditionellen Kaffeehäusern und drei Discos, einem Casino und dem berühmten Souk (Markt) nicht viel zu bieten hat, einfach zu langsam. Auch von Trabelsi Perez´ sechs Kindern haben fünf das Weite gesucht. Nur die Tochter lebt noch hier, auf der Nachbarinsel Zarzis.