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"Labour braucht die Mittelschicht"

Von Alexander Dworzak

Politik

Sollte Jeremy Corbyn neuer Chef der britischen Linken werden, haben die Konservativen leichtes Spiel, sagt Experte Storck.


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99 Auftritte hat Jeremy Corbyn in den vergangenen drei Monaten absolviert. Der hundertste soll gleichzeitig der erste als neuer Vorsitzender der britischen Labour-Party sein; Samstagmittag wird das Ergebnis der Abstimmung unter den rund 550.000 wahlberechtigten Mitgliedern und Sympathisanten der britischen Sozialdemokraten bekanntgegeben. Statt aalglattem Politsprech wie bei den anderen drei Kandidaten lieferte Corbyn klare Ansagen, etwa will er Post, Bahn und Energieversorger verstaatlichen und ist gegen die Nato-Mitgliedschaft Großbritanniens - und mutierte vom schrulligen Außenseiter vom linken Rand zum Favoriten auf den Parteivorsitz.

"Wiener Zeitung": Corbyns Lager sagt, allein mit seiner Kampagne habe er die Politik in Großbritannien geändert. Muss sich Labour unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung weiter links als bisher positionieren?

Ulrich Storck: Labour ist politisch ausgelaugt, vor allem, weil sie in den vergangenen fünf Jahren unter dem Vorsitzenden Ed Miliband ständig in der Defensive war. Miliband hat keine Richtungsentscheidung getroffen, sondern versucht, alle Strömungen in der Partei zu vereinen. Dadurch hat er sich nie klar positioniert, die Bürger hatten daher kein Vertrauen in die Partei. Nach dem Debakel bei der Wahl im Mai und dem Rücktritt Milibands ist der interne Richtungsstreit wieder offen zutage getreten.

In welchen Bereichen wäre eine Entscheidung nötig?

Die Wirtschaftspolitik ist eine Kernfrage, sie war es auch für die Wähler bei der letzten Unterhauswahl, gemeinsam mit den Themen Verschuldung und Beschäftigungspolitik. Miliband sagte, Labour sei die Partei der sozialen Gerechtigkeit, aber auch in der Lage, seriöse Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das wurde ihm nicht abgenommen aufgrund der gescheiterten Wirtschaftspolitik unter Gordon Brown (Labour-Premier 2007-10, Anm.). Dass die Wirtschafts- und Finanzkrise entscheidend dazu beitrug, haben Bürger und Medien aber meist ausgeblendet und Labour die alleinige Schuld gegeben. Und die konservativen Regierungen seit 2010 begründen ihren rigiden Sparkurs stets damit, sie hätten von Labour leere Kassen übernommen. Laut Umfragen glauben 65 Prozent der Briten dieses Argument. Der Flügel von Ex-Premier Tony Blair will daher wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit zurückerringen, Corbyn setzt auf linke Werte, damit sich Labour von den Tories unterscheidet.

Die englische Mittelklasse wählte zuletzt die Tories, die Scottish National Party hat die traditionelle Labour-Hochburg Schottland erobert. Welche Wählerschichten bleiben Labour eigentlich noch?

Nicht einmal der historische Labour-Kern, das industrielle Proletariat, existiert mehr in gewohnter Form. Wenn Labour wieder regieren möchte, muss sie andere Wählersegmente ansprechen, muss die Mittelschicht in Mittelengland zurückgewinnen. Insofern ist das Argument des Blair-Flügels, Wirtschaftskompetenz zu zeigen, nachvollziehbar.

Die Mittelschicht wird sich von einem Labour-Chef Corbyn wohl abgeschreckt fühlen.

Absolut. Wenn Corbyn Labour anführt, hat die Partei von Premier David Cameron einen leichten Gegner. Allerdings kann niemand sagen, wie sich Corbyn als Parteichef darstellt, ob er von extrem linken Positionen abweicht.

Die letzte veröffentlichte Umfrage zum Labour-Vorsitz ist knapp einen Monat alt. Damals führte Corbyn das Feld der vier Kandidaten an. Hat sich in der Öffentlichkeit der Wind gedreht oder denken Sie, Corbyn wird gewinnen?

Die öffentliche Stimmung hat sich wenig verändert. Allerdings weiß niemand, wie die wahlberechtigten Gruppen konkret wählen. Es wird angenommen, dass 40 Prozent der 150.000 stimmberechtigten Gewerkschafter gewählt haben und wohl die Mehrheit davon hinter Corbyn steht. Auch die 130.000 Anhänger, welche für drei Pfund Gebühr mitstimmen können, tendieren zu Corbyn. Bleiben die Mitglieder, die sich recht gleichmäßig verteilen könnten. Aber bereits bei der Parlamentswahl lagen die Demoskopen weit daneben.

Corbyn sagt, er sei zuversichtlich, Labour werde im Falle seiner Wahl geeint hinter ihm stehen. Ist das realistisch angesichts kursierender Szenarien von der Parteispaltung bis zum Rücktritt Corbyns noch vor der nächsten Unterhauswahl?

Denkbar ist alles. Es gibt einerseits versöhnliche Stimmen, zum Beispiel der Blair-Anhängerin Liz Kendall, die sich ebenfalls um den Parteivorsitz beworben hat. Andererseits steht die Parlamentsfraktion überhaupt nicht hinter Corbyn. Unter den Abgeordneten haben sich bereits kleine Gruppen zusammengeschlossen für den Fall, dass Corbyn zu linke Politik macht. Viele Beobachter gehen davon aus, dass er ein Übergangskandidat ist und eine parteiinterne Debatte über Labours Inhalte entfacht.

Wie könnte Corbyn in dem konservativ dominierten Haifischbecken der britischen Medienlandschaft bestehen?

Er ist ein sehr leichtes Ziel für die Tory-nahe Presse. Die Konservativen haben bereits im Sommer seine Aussagen der vergangenen 30 Jahre gesammelt und werden ihn von Beginn an attackieren. Gleichzeitig rechnen die Medien Corbyn seinen offenen und bürgernahen Stil an. Und dass er nicht der Westminister-Elite angehört.

Kritiker warfen Blairs "New Labour" Marktfixierung vor. Andererseits blieb die Partei dank des Rezepts, nicht mit Margaret Thatchers Politik zu brechen, 13 Jahre an der Macht, von 1997 bis 2010. Kann in Großbritannien traditionell-sozialdemokratische Politik überhaupt mehrheitsfähig sein?

Die Konjunkturdaten in Großbritannien sind zwar gut. Der Aufschwung kommt aber nicht bei den Bürgern an: Die Mittelklasse verarmt und die Lebenserhaltungskosten steigen schneller als die Löhne. Die Briten merken, dass die Gesellschaft nicht sozial ausgewogen ist. Daher gibt es Bedarf nach sozialdemokratischer Politik - sofern die Wirtschaftspolitik vertrauenswürdig ist und fiskale Disziplin herrscht.

Ulrich Storck leitet die Londoner Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung, ein der deutschen SPD nahestehender Think Tank.