Die surrealen Welten des Schlafes, des Traumes und der Grenzüberschreitung haben Künstler stets inspiriert: Zur Kulturgeschichte der Nacht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?" Diese Frage stellt das poetische Ich in den "Hymnen an die Nacht" des Dichters Novalis. Das Phänomen der Nacht ist vielschichtig: Es ist die Welt der Schlafes, des Traumes, der Grenzüberschreitung. Der Anbruch der Nacht eröffnet einen anderen Zeitraum. Sie stellt im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault eine Heterotopie dar - eine Welt des ganz Anderen, die die in Zürich lehrende Literaturwissenschafterin Elisabeth Bronfen zu Beginn ihres umfangreichen Buches "Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht" beschreibt.
Kontakt mit Traum-Ich
In der Sphäre des Nächtlichen sind zahlreiche Abweichungen von der geordneten Welt der Rationalität möglich. Konturen und Abgrenzungen verschwimmen; es ereignet sich ein Geschehen, das einem surrealistischen Theaterstück gleicht. Schon längst Verstorbene nehmen Kontakt mit dem Traum-Ich auf, verflossene Liebschaften erneuern sich, Reisen durch phantastische Landschaften übertreffen jeden medialen Reisebericht. Es gibt keine stringente Handlung, die sich logisch entwickelt; Kategorien wie Raum und Zeit lösen sich auf.
Dieser anarchische Auflösungsprozess des Rationalen überforderte die meisten Philosophen. Die Propagandisten der Helligkeit der Vernunft verfügten entweder über kein Instrumentarium, die Dimension des Nächtlichen zu erkunden oder hatten Angst, sich im labyrinthischen Dunkel zu verirren. Ein Beispiel, das in der abendländischen Tradition der Philosophie eine zentrale Rolle spielte, ist Platons "Höhlengleichnis": Die Menschen, die sich in der Höhle befinden, leben in einer Schattenwelt, in der sie die schemenhaften Umrisse von Gestalten, die von einem Feuerschein beleuchtet werden, als Realität betrachten. Die Troglodyten sind unfähig, sich eine andere Welt vorzustellen, eine Welt, die vom strahlenden Licht der Vernunft erhellt ist; sie sind zufrieden, im defizienten Dämmerzustand der Höhle zu verweilen.
Die Abwertung des Nächtlichen wurde später von "den prunkvollen Verheißungen der Aufklärung" (so Friedrich Engels) fortgesetzt und radikalisiert; da ging es darum, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien und in den Bereich des Lichts und der Vernunft vorzudringen.
Im Gegensatz zu den philosophischen Apologeten der taghellen Vernunft waren es Dichter und Maler, die in ihren Texten und Gemälden das Terrain des Nächtlichen erkundeten. Am Beginn einer "Kulturgeschichte der Nacht" steht die "Theogonie" des antiken Autors Hesiod, der den Text um die Mitte des 7. Jahrhunderts vor Christus verfasst hat. In der "Theogonie" entfaltet Hesiod, über dessen Leben wenig bekannt ist, eine Genealogie der "seligen Götter, der ewig seienden".
"Was als Erstes entstand", ist das Chaos, "die gähnende Leere des Raumes", aus der die illustre Schar der Göttinnen und Götter wie Gaia, Tartaros, Eros, Erebos und Nyx entstand. Die Göttin Nyx zeugte zahlreiche Nachfahren, die dem Bereich des Nächtlichen zuzuordnen sind. Neben den Göttern der Zuneigung, des Traumes und des Schlafes gebar sie jene Kinder, die als Todes- oder Unglücksdämonen fungieren.
Dunkle Nacht der Seele
Es sind dies Moiros, Thanatos und Ker - die Götter des Schicksals, des sanften Todes und die Göttin der Zerstörung und des gewaltsamen Todes. Hinzu kam noch die "düstere Eris", die Göttin der Zwietracht und des Streites, die ein Szenario in Gang setzte, das bis heute zahllose Opfer gefordert hat: "Schlachten und Kämpfe und Mord und dann Hinwürgen der Männer/ Hader und Lügen hierauf und gleißende Rede und Wortstreit/ Abfall von dem Gesetz und Verblendung, einander verbunden/ Endlich den Eid, der mehr als alles die Menschen auf Erden/ Bringt in Weh, wenn wer mit Bedacht meineidig geschworen."
Eine weitere Facette des nächtlichen Erlebnisspektrums beschreibt der spanische Karmelitermönch und Mystiker Johannes vom Kreuz in seinem Gedicht "Die dunkle Nacht der Seele", zu dem er einen Kommentar verfasst hat. In diesem Gedicht schildert Juan de la Cruz, wie er auf Spanisch heißt, das Verschmelzen mit dem Absoluten. In dem Gedicht "Die dunkle Nacht der Seele" - gleichsam ein Liebeslied - geht es um die mystische Vereinigung der Seele mit Gott.
Von Sehnsucht getrieben, verlässt das poetische Ich den geschützten Bereich seines eigenen Hauses und begibt sich in die ungeschützte Dunkelheit der Nacht. Das Heraustreten aus dem Bereich des eigenen Hauses, was metaphorisch als Verlassen der geordneten Tagwelt zu verstehen ist, eröffnet die Möglichkeit, das Göttliche zu erfahren; sie erfolgt in der Begegnung mit dem "unfassbaren Geliebten": "So blieb ich und vergaß mich selbst/ neigte das Antlitz über den Geliebten/ Alles erlosch, ich gab mich auf/ ließ meine Sorge fahren, vergessen unter Lilien".
Hymnen an die Nacht
"Abwärts wend’ ich mich, zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht . . ." - mit diesen Worten beginnt eine andere Expedition in die Nacht, die Novalis, einer der führenden Dichter der Frühromantik, unternimmt. Dieser Text - mit dem Titel "Hymnen an die Nacht" - beginnt paradoxerweise mit einem Preislied auf das "allerfreuliche Licht, mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen". Es ist eine Welt, in der die Kette des Seienden - von den Steinen über die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen und Gott eine harmonische Einheit bildet.
Das poetische Ich wird jedoch durch den Tod seiner Geliebten aus dieser kosmischen Harmonie gerissen. Den biografischen Hintergrund bildet der frühe Tod von Novalis’ Geliebter Sophie von Kühn, die im Alter von 15 Jahren verstarb. Der Trauernde verfällt am Grab seiner Geliebten in eine tiefe Depression - "einsam, wie noch kein Einsamer war, kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch". Zunächst wird er von dem Wunsch getrieben, der Geliebten in den Tod zu folgen. Das Eintauchen in die Nacht bewirkt jedoch einen Sinneswandel. Das trauernde Ich verspürt eine Ahnung, "einen Dämmerungsschauer" des Transzendenten, der die Begrenzungen der personalen Identität sprengt. Die nächtliche Ruhe fungiert als "die Verkünderin heiliger Welten".
In der Nacht gelten nicht länger die Regeln der Alltagswelt; sie ermöglicht eine Begegnung mit dem Unendlichen und löst eine kaum zu beschreibende Begeisterung aus. Auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung, da auf die Nacht stets auch der Morgen folgt. Das Ich beklagt sich in dieser Hymne über die Geschäftigkeit des Alltagslebens. Aber das Ich erkennt auch, dass die Herrschaft des Lichts nur begrenzt ist, die Herrschaft der Nacht jedoch zeit- und raumlos.
Thema ist hier also nicht die Nacht als Zeitpunkt des Schlafes und der Ruhe, sondern die Zeit der "heiligen Nacht", die einen Zugang zu rauschhaften Zuständen eröffnet, wie sie im Rausch des Weines, im Opiumrausch erfolgen - "in der goldnen Flut der Trauben, in des Mandelbaums Wunderöl und dem braunen Safte des Mohns". Die darauf folgende Hymne beginnt in einer Stimmung der Ernüchterung. Die Begegnung mit dem Rauschhaften ist beendet, das poetische Ich kehrt in die profane Welt des Alltags zurück, in jene Welt, die Martin Heidegger als die "Welt des Man" bezeichnet hat, in der "man" sein Leben nach den Regeln des vorgegebenen gesellschaftlichen Common sense ausrichtet.
In der Transgression erfolgte eine kurzfristige Ahnung von der völligen Verschmelzung mit dem Absoluten. Das Ziel, das dem Ich von nun an vorschwebt, ist das vollständige Eintauchen in die Nacht, in der die Teilhabe am höheren, ewigen Sein erfolgt. Hier lassen sich deutliche Verbindungen von privater Mythologie und christlichen Vorstellungen erkennen. Novalis verbindet das Nachtmotiv mit theologischen Konnotationen und beschwört den Urgrund des Seins - jenen Bereich, in dem die Welt des Tageslichts jegliche Bedeutung verliert: "Unendliches Leben/ Wogt mächtig in mir/ Ich fühle des Todes/ Verjüngende Flut/ Zu Balsam und Äther/ Verwandelt mein Blut/ Ich lebe bei Tage/ Voll Glauben und Mut/ Und sterbe die Nächte/ In heiliger Glut".
Eine visionäre, traumatische Darstellung der Nacht findet sich bei Georg Trakl. Für ihn symbolisiert die Nacht Melancholie, Angst, Entfremdung, Isolation und die Auflösung der Identität - all jene Motive, die sowohl in der Literatur und der Malerei des Expressionismus thematisiert werden. Trakl, der von 1887 bis 1914 lebte, verstand sich als Angehöriger "eines verfluchten Geschlechts", der die unaufhaltsame Apokalypse - das Weltende - auf sich zukommen sah. Sein Leben war ein ständiger Exzess, der bereits früh als Apothekerlehrling in Salzburg begann, wo er Zugang zu berauschenden Substanzen hatte.
Trakls Apokalypse
Der trivialen Welt der Normalität, die er nicht ertrug, versuchte Trakl mittels Alkohol und Opiaten zu entkommen. Diese Versuche scheiterten - was blieb, waren tiefgehende Trauer, Angst, Schwermut und Paranoia: "Du dunkle Nacht, du dunkles Herz/ Wer spiegelt eure heiligsten Gründe?/ Und eurer Bosheit letzte Schlünde?/ Die Maske starrt vor unserem Schmerz/ Und steht vor uns ein fremder Feind/ Der höhnt, worum wir strebend ringen/ Dass trüber unsre Lieder klingen/ Und dunkel bleibt, was in uns weint".
Die tatsächliche Apokalypse erlebte Trakl dann im Ersten Weltkrieg in Galizien, wo er als Sanitäter hunderte Schwerverletzte betreuen musste. In der Schlacht bei Gródek brach er unter dem Eindruck der Gräuel zusammen und wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo er am 3. November 1914 an den Folgen einer Überdosis Kokain verstarb. Das Gedicht "Klage", das er kurz vor seinem Tod verfasste, ist ein erschütterndes Dokument jener "Menschheitsdämmerung", deren Vorboten Trakl und die Generation der expressionistischen Künstler und Künstlerinnen gewesen sind: "Und es klagt die dunkle Stimme/ Über dem Meer/ Schwester stürmischer Schwermut/ Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt/ Unter Sternen/ Dem schweigenden Antlitz der Nacht".
"Im schweigenden Antlitz der Nacht" fanden zahlreiche Maler den idealen Ort, um neue Ausdrucksweisen zu erkunden, die von der in Wien tätigen Kunsthistorikerin (und regelmäßigen Kunstkritikerin der "Wiener Zeitung") Brigitte Borchhardt-Birbaumer in der über achthundert Seiten umfassenden Studie "Imago noctis. Die Nacht in der Kunst des Abendlandes" detailliert beschrieben werden.
Ein zentrales Thema ist die "Lubrikation" - die Vorliebe der Künstler, vorwiegend in der Nacht zu arbeiten. Borchhardt-Birbaumer zitiert den Bericht des Renaissance-Chronisten Giorgio Vasari, dass Michelangelo in der Nacht arbeitete und dabei eine Kopfbedeckung trug, auf die eine Kerze aus Ziegenfett montiert war. Und die Zeichnung "Studie der Schattenprojektion" der Schule von Leonardo da Vinci zeigt einen schmalen Raum mit fensterlosen Wänden, in dem drei Künstler mit dem Licht einer Kerze experimentieren.
Die Beleuchtung der dargestellten Personen und Objekte durch Kerzen oder andere Lichtquellen erzeugte durch die starken Hell-Dunkel-Kontraste - dem "Chiaroscuro" - eine gesteigerte Plastizität und vermittelte eine Stimmung, deren beruhigende und kontem-plative Aspekte Michelangelo in einem Sonett über die Nacht hymnisch schildert: "O Nacht, du süße Zeit trotz deiner Schatten/ Du endest der Gedanken Streit/ dem Matten will deine sanfte Kühlung Ruhe bringen/ Du stärkst das schwache Fleisch/ du stillst die Not/ du trocknest Tränen und du wirst befrei’n/ die reinen Herzens sind von jedem Kummer".
Füssli und Blake
Die "Chiaroscuro"-Malerei erfuhr dann eine Steigerung bei Michelangelo da Caravaggio, Rembrandt van Rijn, Francisco de Zurbarán und Diego Velázquez, die intensive Lichtquellen nützten, um emotionale Befindlichkeiten der dargestellten Figuren deutlich zu akzentuieren.
In der Romantik kam es zu einer dramatischen Steigerung der "Chiaroscuro"-Malerei. Zwischen 1790 und 1840 befasste sich eine Generation von Künstlern mit der Welt des Irrationalen und des Unbewussten, die sie lange vor Sigmund Freud erkundete. Im Mittelpunkt romantischer Kunstausübung standen Träume, Phantasien und Räusche, wie die Beispiele der Künstler Johann Heinrich Füssli und William Blake zeigen. Der Schweizer Maler Füssli, der von 1741 bis 1825 lebte, schilderte in seinen Gemälden eine Sphäre des Grauens und des Dämonischen. Wie kein anderer Künstler seiner Zeit bevölkerte er das nächtliche Reich mit Dämonen und Elfen und ließ die Träumenden Lust oder Schrecken erleben.
Füsslis Traumbilder basieren meist auf literarischen Motiven, in denen das Abgründige, Irrationale zum Ausdruck kam, das die Aufklärung zu bannen suchte. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist das Gemälde "Der Nachtmahr", das Füssli 1790 malte. Es zeigt eine kaum bekleidete schlafende Frau, auf der ein hämisch grinsender Dämon hockt. Die zerwühlte Decke zeigt den Kampf gegen das Grauen, das von ihrer Psyche Besitz ergriffen hat. Ein Pferd mit wallender Mähne ist Zeuge des alptraumhaften Geschehens (siehe Abbildung).
Für Füssli gilt das Motto von William Blake: "Wer richtig sieht, sieht visionär!" Diese Überzeugung prägte das Gesamtwerk des Malers und Schriftstellers William Blake, der sich in einer Welt von Halluzinationen und Ekstasen bewegte. Er entwarf eine höchst komplexe Privatmythologie, in der die rebellischen Gestalten einer poetischen Weltsicht gegen die Kräfte der Rationalität kämpften. Das bloße Empfangen von Sinneseindrücken verhindere eine visionäre Sichtweise der Welt, argumentierte Blake, sie pervertiere die Form des Sehens.
Goyas schwarze Bilder
In der Tradition von Jakob Böhme verstand Blake die visionäre Sicht als eine Synästhesie der Sinne, die einen Einblick in die bisher unbekannten Sphären des Absoluten ermöglichte. Visionen finden sich auch in den späten Gemälden und Zeichnungen von Francisco Goya, speziell in den "Schwarzen Bildern", den "Pinturas negras", in denen gewalttätige Episoden aus der griechischen Mythologie ("Saturn verschlingt seinen Sohn") und des Alten Testaments ("Judith und Holofernes") in düsteren Bildräumen dargestellt werden.
Goyas intensive Auseinandersetzung mit den Manifestationen des Unbewussten ist jedoch keine Verherrlichung des Irrationalen, worauf der 2013 verstorbene Kunsthistoriker Werner Hofmann in seiner Studie "Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle" verwiesen hat. Die wohl bekannteste Radierung Goyas, "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", wurde häufig als Beleg dafür gedeutet, dass die von der Aufklärung verehrte Vernunft der Garant einer rationalen Lebensführung sei, die die Manifestationen des Unbewussten wie Triebe oder Lüste zügelt. Nur wenn sie nicht aktiv ist, haben die Ungeheuer des Unbewussten die Möglichkeit, ihre negativen Energien zu entfalten.
Hofmann interpretiert diese Radierung jedoch als Traum; "el sueño" bedeutet im Spanischen sowohl Schlaf als auch Traum. Der Künstler ist dann nicht mehr von den Gestalten der Phantasie getrennt, sondern durch seine Einbildungskraft aktiv beteiligt. Indem der Künstler sich auf die Nachtseite der menschlichen Existenz einlässt, lernt er die destruktiven Kräfte kennen und versucht, sie im Kunstwerk zu bannen.
Ähnlich wie ein Psychotherapeut schafft der Künstler damit einen Denkraum der Besonnenheit: "Der Künstler heilt, indem er bewusst macht".
Hinweise:
Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. Carl Hanser Verlag, München 2008, 639 Seiten.
Brigitte Borchhardt-Birbaumer: Imago noctis. Die Nacht in der Kunst des Abendlandes vom alten Orient bis ins Zeitalter des Barock, Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 2003, 811 Seiten.
Nikolaus Halmer, geb. 1958, Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.