320.000 syrische Flüchtlinge im Libanon - nun ertönt der Ruf nach Grenzschließung.
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Beirut. Die eng gewundenen Straßen vor Cezars Lebensmittelgeschäft gehören zu den ruhigsten Beiruts. Gelassen mäandern sie vorbei an alterskrummen Bäumen, französischen Kolonialbauten und Männern beim Backgammonspiel. Ein Stück den Berg hinauf liegen das katholische Patriarchat und der Jesuitengarten. "Es ist wie ein Dorf hier", sagt Cezar und berührt das kleine Silberkreuz, das um seinen Hals hängt. "Die Familien leben hier alle schon, seit ihre Großeltern geboren wurden." Die meisten Menschen, die in Cezars Geschäft einkaufen, kennt er persönlich und plaudert mit ihnen. Nur die Syrer, die 200 Meter die Straße entlang in einem dreistöckigen Haus wohnen, würdigt er keines Blickes.
Einige Dutzend syrische Arbeitsmigranten wohnen dort seit mehreren Jahren. Sie arbeiten auf den umliegenden Baustellen, in Werkstätten und im Straßenbau. Schätzungsweise eine halbe Million Syrer leben dauerhaft im Libanon. Das Geld, das sie verdienen, schicken sie nach Hause oder sparen es, um später in ihrer Heimat ein Haus zu kaufen oder ein Geschäft zu gründen.
Seit der Bürgerkrieg in Syrien täglich bis zu 3000 zusätzliche Flüchtlinge in den Libanon treibt, sind sie vielerorts nicht mehr willkommen. "Die machen nur Probleme", sagt Cezar. "Die belästigen unsere Frauen und stehlen in meinem Geschäft." Überall in der Nachbarschaft sind ähnliche Sprüche zu hören. Kürzlich reagierte die libanesische Armee.
In einer Nachtoperation drang eine Einheit Soldaten in das Haus der Syrer ein. Mit Besenstielen und Gürteln verprügelte sie die Anwesenden. Für mehrere Stunden mussten die Migranten auf dem Flachdach des Hauses knien, während sie geschlagen wurden. Von den Fenstern der umliegenden Häuser schauten die Nachbarn zu. Jugendliche versammelten sich vor dem Haus und rissen Witze. "Das geschieht denen recht. Endlich unternimmt jemand etwas", sagt Cezar.
Mehr als 250.000 vorwiegend sunnitische syrische Flüchtlinge leben mittlerweile im Libanon. Die Flüchtlingswelle droht das fragile konfessionelle Gleichgewicht des Landes zu zerstören.
Schon jetzt verschärfen der Krieg in Syrien und die Flüchtlingskrise politische Spannungen. Das Parlament zerfällt in zwei Gruppen. Das vorwiegend schiitische Regierungsbündnis 8. März unterstützt das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Al-Assad ist Alawit, eine Untergruppe des Schiitentums, und damit enger Verbündeter der größten Partei des 8.-März-Bündnisses, der schiitischen Hisbollah. Die sunnitisch dominierte Oppositionsgruppe "14. März" sympathisiert mit dem syrischen Aufstand. Die Christen des Landes verteilen sich auf die beiden Lager. Offiziell haben sich alle Parteien auf eine Politik der Abschottung geeinigt, um ein Übergreifen des Bürgerkriegs zu verhindern. Doch beide Seiten machen kaum Anstalten, die Unterstützung ihrer Verbündeten zu verheimlichen. Bewaffnete Gruppen aus beiden Lagern bekämpfen sich regelmäßig im nordlibanesischen Tripoli und zunehmend auch in Syrien.
"Kein Platz mehr im Haus"
Einige Regierungsmitglieder machen offen Stimmung gegen die Flüchtlinge. "Die Präsenz der syrischen Flüchtlinge und ihre Arbeitskraft nehmen den Platz der Libanesen ein", sagte Energieminister Jibran Bassil kürzlich während einer Pressekonferenz und forderte die Schließung der Grenze zwischen den beiden Ländern. "Du hast ein freies Bett in deinem Haus, in dem schon zwei Leute schlafen. Drei weitere schlafen auf dem Boden, vier auf dem Dach und fünf im Garten. Und was dann? Es ist kein Platz mehr im Haus." Die Opposition wirft ihm Rassismus vor. Bassil nennt das Realismus und findet mit seinen Tiraden Gehör. Schon einmal, in den 1970ern strömten zehntausende Flüchtlinge ins Land. Palästinenser, die zuerst aus Israel und dann aus Jordanien vertrieben wurden. Viele Libanesen geben ihnen die Schuld am Bürgerkrieg, der dann jahrelang tobte und das Land verwüstete.
Konflikt Sunniten vs. Schiiten
Die Stadt Baalbek ist gemischt sunnitisch und schiitisch. Von Laternenpfählen und Bannern blicken die Führer der Schiitenpartei Hisbollah auf die Menschen der Stadt hinab. Alle paar Meter wehen die gelben Fahnen der Partei. In den vergangenen Monaten gab es in der Umgebung immer häufiger Begräbnisse von in Syrien getöteten Hisbollah-Kämpfern.
"Unser Haus wurde vollständig zerstört", sagt Abdah, die vor zwei Wochen aus Aleppo mit ihrem Mann und vier Kindern in der Stadt angekommen ist. "Wir haben so lange wie möglich ausgehalten, aber die Kämpfe nahmen kein Ende." Jetzt sitzt sie mit ihrem Jüngsten auf dem Arm in einem Registrierungszentrum des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Für eine Weile kamen sie bei Verwandten unter, doch die Wohnung war zu klein. "Die Kinder stritten die ganze Zeit. Wir konnten das den Gastgebern nicht mehr zumuten."
Geduldig wartet Abdah mit duzenden anderen auf weißen Plastikstühlen in der offenen Halle. Erst nach der Registrierung erhalten Flüchtlinge eine monatliche Zuwendung von 30 Dollar. Abdahs Mann war in Syrien Elektriker. Jetzt nimmt er als Tagelöhner jeden Job an, den er kriegen kann. "Es ist schwierig für ihn", sagt Abdah, Tränen schießen in ihre Augen. "Die Leute fragen ihn nach seiner Herkunft und seiner politischen Einstellung. Wenn es ihnen nicht passt, nehmen sie ihn nicht, und wir haben kein Geld."
Trotz der Tatsache, dass der Libanon mit seinen gerade einmal 4,5 Millionen Einwohnern mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als Nachbarländer wie Jordanien und die Türkei, verhindert die Regierung, die Errichtung von Flüchtlingslagern. Die Erfahrung mit den Palästinensern, deren temporäre Camps mittlerweile kleine Städte sind, soll sich nicht wiederholen. Viele Flüchtlinge, die sich die Miete nicht leisten können, leben in leerstehenden Schulen, Rohbauten und auf Parkplätzen.
Weiter im Süden ist die Situation noch angespannter. Das Gebiet ist überwiegend schiitisch, die Hisbollah betrachtet es als ihr Hoheitsgebiet. Ayman Alghazal ist Leiter der Stadtverwaltung von Tyr. Jeden Tag kommen Flüchtlinge in sein kleines Büro, um sich registrieren zu lassen. Immer wieder hört er die gleichen Geschichten über Kämpfe, Tod und Vertreibung. "Wenn die Familien in Tyr eintreffen, schlafen sie oft zuerst auf der Straße", sagt Alghazal, der die Flüchtlingshilfe koordiniert. "Täglich kommen mittlerweile Familien aus Damaskus hier an." Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Ordner mit Registrierungsbögen. Bisher blieben die Flüchtlinge in den Grenzgebieten oder in den vorwiegend sunnitischen Gegenden im Norden. Doch die Kapazitäten dort sind erschöpft. Jetzt weichen sie in den Süden aus. In den vergangenen Monaten schlugen die Spannungen zwischen Unterstützern und Gegnern des Aufstands in Syrien in Gewalt um, jüngst starben vier Menschen bei Schießereien zwischen sunnitischen Milizen und Hisbollah-Mitgliedern.
Währenddessen erreicht der Krieg in Syrien die Hauptstadt des Landes. Damaskus liegt weniger als 50 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Im Stadtzentrum harren immer noch mehrere Millionen Menschen aus. Wenn sie zur Flucht gezwungen werden, befürchten viele, dass die Situation im Libanon eskaliert. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Flüchtlinge bis Mai verdoppeln wird.
Im Hoheitsgebiet der schiitischen Hisbollah hingegen, im benachbarten Nabatieh, werden Flüchtlinge ganz öffentlich diskriminiert. Laut Schätzungen leben 9000 Flüchtlinge in der Stadt. Bei ihrer Ankunft müssen sie sich bei der Hisbollah registrieren. "Sie werden gefragt, ob sie Sunnis oder Alawi sind", sagt Leyla, eine lokale Flüchtlingshelferin. "Die Alawis werden willkommen geheißen, während die Sunniten keine Hilfe bekommen und unter Druck gesetzt werden."
In Beirut wächst das Lager jener Politiker, die die Grenze zwischen den beiden Ländern schließen wollen, um die syrischen Flüchtlinge auszusperren. Alle Beteiligten wissen, dass dies nicht möglich ist. Zu unübersichtlich sind die Berge und Täler, die die beiden Länder voneinander trennen. Doch darum geht es nur bedingt. Die Forderungen sind Teil eines politischen Lagerkampfes. Eines Lagerkampfes, der zunehmend den Linien des libanesischen Bürgerkriegs folgt.