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Lakshmi Sundaram: "Jetzt kommt der unglamouröse Teil"

Von Thomas Seifert

Politik

Die Interims-Direktorin von Open Democracy glaubt nicht daran, dass die Angriffe gegen die Demokratie abgewehrt sind.


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Lakshmi Sundaram ist Interims-Direktorin der Demokratie-NGO Open Democracy, die in vielen Ländern aktiv ist, um demokratische Prozesse zu unterstützen. In Wien war sie im Rahmen der Jahreskonferenz des European Foundation Center, einer Vereinigung philanthropischer Stiftungen. Gastgeber war die Erste-Stiftung.

"Wiener Zeitung": Zuletzt war viel von einer Demokratie in der Defensive die Rede. Demokratische Errungenschaften seien in jüngster Vergangenheit wieder abhandengekommen: Die Namen Donald Trump, Viktor Orban und Jair Bolsonaro sind eng mit dem Begriff der "demokratischen Rezession" verknüpft. Geht es nun wieder aufwärts?

Lakshmi Sundaram: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten begonnen, die demokratischen Institutionen für selbstverständlich zu halten. Nun erleben wir aber seit einigen Jahren Attacken auf das Justizsystem und eine Politisierung von demokratischen Institutionen. Wenn zuvor klar war, dass diese Institutionen öffentliche Einrichtungen sind, die für das Funktionieren eines demokratischen Staatswesens unerlässlich sind, beobachten wir nun eine Erosion des Vertrauens in die Medien, in staatliche Institutionen, in die Gerichtsbarkeit.

Dieses Vertrauensvakuum wurde dann unter anderem von Desinformation gefüllt. Ein wichtiger Punkt: Diese Attacken auf demokratische Institutionen sind koordiniert. Das mag jetzt wie eine Verschwörungstheorie klingen, aber die Geldströme von Spendern, die Abtreibungsgegner, Anti-LGTBQ-Gruppen, die Gegner von Minderheitenrechten oder identitäre Bewegungen unterstützen, sind wohl dokumentiert. Da gibt es eine ganze Reihe von Milliardären und Millionären, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und Russland, die antidemokratische Gruppierungen unterstützen und die auch mit rechten und rechtsextremen Parteien zusammenarbeiten.

Die gute Nachricht: Seit einigen Jahren gibt es Gegendruck. Viele Bürgerinnen und Bürger sind erschrocken über die Richtung, in die viele Gesellschaften in den vergangenen Jahren gesteuert sind. Denken Sie an die vielen Frauenmärsche nach der Wahl von Donald Trump, denken Sie an die Black-Lives-Matter-Demonstrationen in vielen Ländern der Erde, denken Sie an die Fridays-for-Future-Umweltbewegung. Was wir da sehen, fühlt sich erstmals an wie eine globale Welle, die den antiliberalen Bewegungen entgegenschwappt.

Und es gibt noch etwas anderes: Es wächst eine jüngere Generation von politisch aktiven Menschen heran, die sich von den derzeit der Macht befindlichen Politiker nicht repräsentiert fühlen und die auf den Gedanken kommen, selbst für ein politisches Amt zu kandidieren, sich selbst zu engagieren, sich in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Was sich aber ebenfalls geändert hat: Früher waren die ideologischen Unterschiede zwischen den politischen Gruppierungen weniger scharf. Man hatte den Eindruck, dass christdemokratische und sozialdemokratische Parteien in vielen wichtigen Fragen nicht allzu weit auseinander waren.

Ich komme aber nochmals auf einen bestimmten Punkt - der mir sehr wichtig ist - zurück: Wer finanziert diese Bewegungen? Diese Gruppen sind gut vernetzt. Beim Kampf gegen die Rechte von Frauen geht es ihnen etwa um folgende Botschaft: "Früher war alles besser, die Verhältnisse waren klarer." Sie malen das Bild einer idyllischen früheren Generation. 

... Retrotopia, wie der 2017 verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman das nannte ...

Ein passender Begriff: Es wird so getan, als würden die Rollenbilder einem Naturgesetz entspringen oder in einem heiligen Buch festgeschrieben sein. Die meisten Menschen, die diese Ideen propagieren, sind gar nicht besonders religiös - abgesehen von einer kleinen Minderheit. Identitätspolitik spielt für diese Gruppierungen ebenfalls eine wichtige Rolle, da herrscht oft ein Schwarz-Weiß-Denken: Hier sind wir, die wir für die Wohlstandsgesellschaft und für geordnete Verhältnisse eintreten. Dort sind die anderen. Also jene, die für den Niedergang verantwortlich sind, für schlampige Verhältnisse, Unordnung, Chaos. Die "anderen" werden dämonisiert. Was für Menschen wie mich deprimierend ist: Wie gut manche Politiker darin sind, so zu tun, als würden sie jene Menschen erhören, die sich ungehört und unverstanden fühlen. Und wie sie Personen mit einer Weltanschauung füttern, die ihnen vorgaukelt, sie sollten ja die sein, die an der Macht sein sollten.

Tatsache ist: Die Unzufriedenheit in vielen Teilen der Welt brodelt.

Die Menschen haben das Gefühl, dass sie sich nicht Gehör verschaffen können. Und sie schenken dann jenen ihr Vertrauen, die ihnen sagen: "Ja, du hast einen legitimen Groll! Wir hören Dir zu! Versprochen!" Dabei vergessen viele dann, dass die meisten politischen Ziele der populistischen Parteien den Interessen ihrer Wähler diametral entgegenstehen.

Wer sind aus Ihrer Sicht die Gegner der Demokratie?

In der Vergangenheit gab es eine Weltordnung, die einem bestimmten Menschentypus einen privilegierten Status einräumte. In der Vergangenheit waren das etwa jene, die einen aristokratischen Hintergrund hatten, später dann all jene, die über viel Geld verfügten. Im Laufe der Zeit wurden unsere Gesellschaften demokratischer und transparenter, das Spielfeld wurde fairer. Doch diese Entwicklung ist nicht im Interesse mancher Macht- und Kapital-Eliten und darum stemmen sie sich einer solchen Entwicklung mit aller Kraft entgegen. Eine Emanzipation der Entrechteten und Unterprivilegierten sehen sie als Erosion der eigenen Position.

Ein weiterer Faktor: das steigende Misstrauen gegenüber Institutionen. Es gibt Widerstand gegen Transparenzregeln, gegen Informationsfreiheit. Wir haben Politiker gewählt, haben ihnen Entscheidungsgewalt überantwortet, wir zahlen Steuern und daher ist es unser Recht, zu wissen, was die von uns gewählte Regierung in unserem Namen mit unserem Geld macht. Wo immer man politisch auch stehen mag: es gibt ein Recht auf Information.

Wenn es um die Angriffe auf die Demokratie im Westen geht: Ist das Schlimmste überstanden? Ist die demokratische Rezession überwunden?

Das würde ich gerne hoffen. Aber glauben kann ich es nicht. Es keimt ein Hoffnungsschimmer, aber rechtspopulistische und nationalistische Bewegungen bekommen immer noch sehr viel finanzielle Unterstützung und auch Zuspruch. In der Hoffnung, dass das Schlimmste überstanden ist, liegt auch eine Gefahr: Nämlich, dass man annimmt, dass diese zarten Sprösslinge der Zuversicht bedeuten, dass der Kampf gegen die Anti-Demokraten, gegen die Rechtspopulisten, gegen die Nationalisten und Chauvinisten gewonnen ist. Doch die unbequeme Wahrheit lautet: Jetzt kommt der unglamouröse Teil des Kampfes, jetzt geht es darum, Gesetze auf den Weg zu bringen, die es jetzt braucht, Gesetze, die die Zivilgesellschaft stärken, Transparenzregeln, Kontrollrechte. Gleichzeitig geht es darum, jene Gesetze loszuwerden, die auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Es geht darum, jenes Vertrauen in die Institutionen, das zerstört wurde, wieder herzustellen.

Welche Rolle spielen die Social-Media-Konzerne?

Denken Sie an das jüngste Hearing im US-Kongress, in dem Whistleblowerin Frances Haugen über die üblen Praktiken von Facebook ausgepackt hat. Benützen die Userinnen und User, benützen Sie selbst seither Facebook, WhatsApp oder Instagram weniger oder gar nicht mehr?

Nicht wirklich.

Eben. Was es aber gibt, ist ein größeres Verständnis darüber, dass diese Digital-Giganten stärker reguliert werden müssen, es gibt nun das Bewusstsein, dass diese Konzerne großen sozialen Schaden anrichten können. Was aber noch fehlt: eine breit angelegte Kampagne, um die Medienkompetenz von Bürgerinnen und Bürgern aller Altersschichten zu stärken. Zudem muss klar sein, dass die Regulierung von sozialen Medien etwas völlig anderes ist, als etwa die Medikamentenzulassung oder Umweltvorschriften.

Wie gewinnt die Demokratie aus Ihrer Sicht wieder an Boden?

Jene, die mehr Demokratie wagen wollen, sollten bunte Koalitionen bilden. Denn das Ziel einer offenen, demokratischen Gesellschaft verbindet Progressive, Liberale und Konservative. Die meisten Menschen wollen eine gute und faire Zukunft für die nächsten Generationen. Aber: Wachsamkeit ist gefragt. Selbst in Österreich haben sie erlebt, wie schnell es gehen kann, dass Institutionen untergraben werden, Medien gekauft werden und die politischen Sitten verrohen.

Es braucht Qualitätsmedien, die die Probleme aufzeigen und ansprechen, aber gleichzeitig Menschen präsentieren, die an Lösungen arbeiten.

Es braucht Investitionen in Staatsbürgerkunde: Wie funktionieren die staatlichen Institutionen? Wir funktionieren der Gemeinderat und der Nationalrat, wie funktioniert das Europäische Parlament? Wir könnte globale Solidarität funktionieren?

Als Beispiel könnte ich die Ungerechtigkeit beim Zugang zu Impfstoffen nennen. Es ist doch verrückt, dass man in den USA und in Europa Booster-Shots bekommen kann, während in Afrika nicht einmal die Menschen im Gesundheitsbereich Zugang zu Vakzinen haben. Das sind alles Dinge, die man nicht in einem kurzen Tweet auf Social Media erklären kann. Die Pandemie lehrt uns: Globale Solidarität liegt in unserem Eigeninteresse. Nur wenn die Pandemie für alle vorbei ist, ist sie auch für jeden Einzelnen vorbei.