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56-Jähriger wird vom Stellvertreter zum Chef. | Generalprobe für große Koalition im Bundestag. | Berlin. Der zwölfte Präsident in der Geschichte des Deutschen Bundestags heißt Norbert Lammert. Das neue Parlament hat ihn am Dienstag bei der konstituierenden Sitzung mit einer Mehrheit von 92 Prozent in dieses Amt, das zweithöchste im Staat, gewählt.
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Der 56-jährige promovierte Sozialwissenschaftler aus dem Ruhrgebiet folgt damit dem 61-jährigen Wolfgang Thierse von der SPD nach, der diese Funktion seit sieben Jahren innehatte. Heute wechselt er den Sessel und wird Stellvertreter seines bisherigen Stellvertreters.
Vertrauensbonus im Bundestag
Lammert gehört seit 25 Jahren dem Parlament an, davon drei Jahre als Vizepräsident. Als Vorsitzender des mächtigen CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, ist er vor allem als Grundsatzdenker, Parteiintellektueller und Kulturexperte hervorgetreten. Im Kompetenzteam von Angela Merkel war er eigentlich als Kulturstaatsminister eingeplant. Der verheiratete Katholik und vierfache Vater besticht durch rhetorische Eleganz sowie zurückhaltendes und kompetentes Auftreten und ist auch für politische Konkurrenten ein geschätzter Gesprächspartner. Zwischen 1989 und 1998 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Wissenschafts-, dann im Wirtschafts- und später im Verkehrsministerium.
Mit dem beeindruckenden Vertrauensvorschuss von 564 Ja-Stimmen im Rücken tritt Lammert ans Rednerpult, beginnt seine kurze Antrittsrede stilgerecht literarisch mit dem Hesse-Zitat "Und allem Anfang wohnt ein Zauber inne". Er weist auf die zentrale Rolle eines Parlaments für die Demokratie hin: Regiert werde überall auf der Welt, doch nur ein Parlament legitimiere die Demokratie. "Hier schlägt das Herz einer Demokratie, oder es schlägt nicht", sagt er und unterstreicht angesichts der zu erwartenden Großen Koalition die Bedeutung und die Rechte der kleineren Fraktionen.
In deutlicher Anspielung auf die umstrittene Rolle seines Vorgängers in der Parteispendenaffäre stößt er eine Debatte zur Reform des Amtes an. Er bezweifle die Weisheit, die dem Bundestagspräsidenten die Pflicht auferlege, Sanktionen gegen Parteien zu erlassen, denn er setze sich unweigerlich dem Vorwurf der Parteilichkeit aus. Die Bürger verlangten von den Volksvertretern "Legitimation, Kompetenz und Integrität", mahnt er abschließend.
Dann übernimmt er den Vorsitz und leitet die Wahl seiner Stellvertreter ein. Schon mischt sich ein Hauch polemischer Normalität in die hehre, würdige Szenerie: Die Fraktionen streiten um die Zahl der Stellvertretenden Bundestagspräsidenten. Normalerweise erhält jede Fraktion eine dieser Positionen. Die SPD aber hatte sich ihre Zustimmung zu Lammert durch einen weiteren Stellvertreterposten abkaufen lassen und kommt damit auf zwei.
Schwarz-Rot besteht ersten Härtetest
Doch die Abstimmung - ein allererster Test für die Haltbarkeit einer Großen Koalition - geht glatt. Das Präsidium des Bundestages wird künftig aus dem Präsidenten und sechs Stellvertretern bestehen: Wolfgang Thierse (61) und die bisherige Vizepräsidentin Susanne Kastner für die SPD; Ex-Bauministerin Gerda Hasselfeldt für die CSU; für die FDP soll Hermann Otto Solms (64) seinen Posten behalten. Die Linkspartei hat den PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky benannt, und bei den Grünen wird, nach einer Kampfabstimmung, die bisherige Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt (39) ins Präsidium einziehen. Präsident und Stellvertreter werden vom Parlament für die Dauer einer Legislaturperiode gewählt und sind im Prinzip nicht absetzbar.
Otto Schily eröffnete die konstituierende Sitzung
Zum allgemeinen Gaudium hat Otto Schily die Sitzung recht launig eröffnet. Traditionsgemäß begann er mit den Worten: "Ich bin nachweislich am 20. Juli 1932 geboren. Ist jemand hier anwesend, der mich an Lebensjahren übertrifft?" Ein festes Ritual am Beginn einer jeden Legislaturperiode. In einer mit Anspielungen und Pointen gespickten Rede begrüßte er u.a. ein "politisches Nachwuchstalent" in der Fraktion der FDP, den 67-jährigen Senior der Liberalen, einen gewissen Dr. Konrad Schily, seinen Bruder.
Damit ist der neue Bundestag fristgerecht konstituiert, die alte Legislaturperiode offiziell beendet und damit auch die offizielle Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Von den insgesamt 614 Abgeordneten gehören der CDU/CSU 226 (37%) an, der SPD vier weniger (36%). Größte Oppositionsfraktion ist die FDP mit 61 (10%) Mandaten. Der Linkspartei gehören 54 (8%) , den Grünen 51 (8%) Abgeordnete an.
Nun fehlt noch die neue Regierung. Sollte alles nach Plan gehen, könnte sie frühestens am 18. November vereidigt werden - von dem neuen Präsidenten Norbert Lammert.
Stichwort Bundestagspräsident
Der Bundestagspräsident ist ein wichtiges, wenn auch wenig spektakuläres Amt. In der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, führt er den Vorsitz. Im Namen des Bundestages vereidigt er den Bundespräsidenten, den Bundeskanzler und die Bundesminister.
Als Repräsentant des Bundestages wird er zu allen Staatsempfängen eingeladen. Bei besonderen Anlässen wie beispielsweise Gedenktagen fungiert er als Sprecher des Hauses. Sichtbarste Funktion für die Öffentlichkeit ist die Leitung der Parlamentssitzungen.
Aber er ist auch Hausherr des gesamten Bundestagsareals, d.h. ihm steht das Hausrecht und die Polizeigewalt zu (Reichstag, Jakob-Kaiser-, Marie-Elisabeth-Lüders- und Paul-Löbe-Haus). An ihn gehen alle Gesetzentwürfe von Bundesregierung, Bundesrat oder Bundestag. Er vertritt den Bundestag und regelt seine Geschäfte. Dabei hat er die Würde und die Rechte des Bundestages zu wahren, seine Arbeit zu fördern und die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu führen.
Außerdem ist der Bundestagspräsident auch die oberste Dienstbehörde der mehr als 2.200 Bundestagsbediensteten. Er wacht darüber, dass die Abgeordneten alle Spielregeln einhalten und die Parteien ihre Spendeneinnahmen ordnungsgemäß ausweisen.
Wissen Bundestag
- 481"MdBs" - Mitglieder des Bundestags - kommen aus West-, 133 aus Ostdeutschland.
- Mit Abstand jüngste Abgeordnete ist Anna Lührmann von den Grünen mit 22 Jahren. Ältestes MdB ist Otto Schily mit 73 Jahren. Beide tragen bereits zum zweiten Mal den Ehrentitel "ältester" und "jüngste" Abgeordnete.
- Ingesamt ist das Parlament etwas "männlicher" geworden. 419 Abgeordnete sind Männer, 195 Frauen. Somit könnten die Männer mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit allein die Verfassung ändern.
- Die Statistiker haben ermittelt: Der Durchschnittsabgeordnete ist 49,2 Jahre alt, westdeutsch, evangelisch, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, Rechtsanwalt - und eben männlich.
- Die Abgeordneten erhalten rund 7000 Euro Aufwandsentschädigung sowie eine Kostenpauschale von rund 3600 Euro im Monat. Darüber hinaus können sie sich qualifizierte Mitarbeiter engagieren, die vom Parlament bezahlt werden.
- 346 der 614 Abgeordneten sind Berufspolitiker, 16 sind Unternehmer. Hinzu kommen 25 Lehrer, aber auch Ingenieure, Chemiker und Physiker sind vertreten, Die Zahl der Selbstständigen ist mit 19 eher gering.