Buch untersucht den Wandel der Niederlande. | Der Anti-Islam-Diskurs schade vor allem Europa selbst, meint Cherribi. | Wien. Als gescheitertes Modell des Multikulturalismus gelten bei vielen Beobachtern die Niederlande. Im einst liberalen Land ist aus dem Nichts eine Anti-Islam-Partei entstanden, die 2010 zur drittstärksten Kraft wurde. Ihr Parteigründer Geert Wilders findet breite Akzeptanz. In einer repräsentativen Umfrage von 2008 sahen 57 Prozent der Niederländer im Islam die größte Bedrohung.
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"Früher waren die Niederlande das toleranteste Land der Welt", bekennt der gebürtige Marokkaner Sam Cherribi, der in den 80er Jahren zuwanderte. "Jetzt sind sie das intoleranteste Land der westlichen Welt, das die Islamfeindschaft exportiert", ergänzt er verbittert. Cherribi, der von 1994 bis 2002 Abgeordneter im niederländischen Parlament war, hat in seinem Buch "Im Haus des Kriegs" seine Beobachtungen einer soziologischen Analyse unterzogen. Das in der Oxford University Press erschienene Werk ist eine umfassende Untersuchung.
Anfang der 90er Jahre war Cherribi noch ein einsamer Warner vor einigen radikalen marokkanischen Imamen, die in den Niederlanden ein "Haus des Kriegs" sahen. Der Weg zur Hölle beginne mit der Imitation von Nicht-Muslimen und ende bei der Integration, erklärten sie. Auch auf Hass gegen Juden und Homosexuelle ist Cherribi in seiner damaligen Untersuchung gestoßen.
Doch es gab auch andere Typen. Die andere Seite des Spektrums waren Imame, die sich sogar für Homosexuelle einsetzten. "Ich habe damals gesagt: Radikale Imame müssen ausgewiesen werden. Vorbeter müssen die Integration predigen", betont Cherribi. "Die Radikalisierung in den Moscheen war meine Sorge. Ich forderte das Ende des Imports weiterer Imame. Stattdessen sollten die Imame in den Niederlanden selbst ausgebildet werden."
Doch Cherribi stieß zu dieser Zeit auf wenig Interesse - auch nicht bei einem gewissen Geert Wilders, der sein Parteikollege in der "Volkspartei für Freiheit und Demokratie" war. "Ich kenne Wilders sehr gut", erzählt Cherribi. "Ich habe ihm bei seiner ersten Website geholfen. Damals sprach er nie über den Islam und wusste nichts über ihn." Das Desinteresse der Politik sei "naiv" gewesen.
20 Jahre später ist alles anders. Eingeleitet wurde der Wechsel in der öffentlichen Meinung laut Cherribi mit der die Ermordung Pim Fortuyns durch einen Tierrechtsaktivisten. Bereits vor dem Attentat erregten Ausfälle eines Imams gegen Homosexuelle monatelang die Medien. "Alle wurden dazu interviewt, auch Fortuyn." Der Politiker war selber bekennender Homosexueller. Allmählich erreichte die Anti-Islam-Stimmung die Politik. "Ich hatte das Gefühl, Fremder zu werden. Dieses Gefühl hatte ich nie zuvor."
Als die Niederlande die EU-Präsidentschaft innehatten, wurde die Mitgliedschaft der Türkei zum Thema. "Wilders war als Einziger dagegen. Nachdem Pim Fortuyn bereits ein Beispiel gesetzt hatte, gründete er seine Anti-Islam-Partei. Wilders ist sehr intelligent und hat den anti-islamischen Diskurs perfektioniert."
Einige frühere Themen Cherribis hat Wilders aufgenommen, freilich mit anderem Interesse. "Wir wollten die Emanzipation der Communitys, nicht eine Stigmatisierung der Muslime", bekennt Cerribi. Mittlerweile sei der Anti-Islam-Diskurs völlig übertrieben. "Es gibt kaum radikale Imame." Ebenso überzogen sei auch die Debatte über Parallelgesellschaften. "In Europa gibt es keine Ghettos wie in den USA, wo sich in einige No-Go-Gegenden nicht einmal die Polizei hineintraut", meint Cherribi, der seit 2003 an der Universität in Atlanta lehrt.
Dreifacher Druck auf Muslime
In seinem Buch diagnostiziert Cherribi heute einen dreifachen Druck auf Muslime, der ihre islamische Identität zerstöre: Der erste komme von der islamischen Orthodoxie, der zweite von den Erwartungen der niederländischen Gesellschaft, der dritte entstehe durch die Identität als muslimische Migranten in einer nicht-muslimischen Gesellschaft.
Die wachsende Polemisierung macht Cherribi traurig: "Prinzipiell habe ich nichts gegen Kritik am Islam. Ich bin für die Emanzipation der Muslime." Doch die gegenwärtige Stigmatisierung der Muslime nehme ihnen die Chance, "gleichzeitig Muslim und niederländischer Staatsbürger zu sein." Der Islam sei in Europa wie eine Rasse. Muslime seien "die Schwarzen von Europa".
Sam Cerribi belastet das Thema persönlich: "Ich möchte als Niederländer gesehen werden, aber es ist in Europa nicht möglich. Europäer geben Anderen nicht die Möglichkeit dazuzugehören." Anders sei es in den USA. "Hier ist es besser, Muslim zu sein. Es gibt in den USA viel Toleranz gegenüber Migranten-Communitys und religiösen Gruppen." Und noch etwas zeichne die USA aus: "Die Menschen hier sind stolz, Amerikaner zu sein." Die Europäer sind es nicht. Europa fehle eine politische Identität, und das steigere die Angst vor dem Islam: "Die amerikanische Flagge ist ein Symbol für die USA, die Flagge der Europäischen Union mobilisiert niemanden."
Selbstkritisch und emanzipatorisch könne sich der Islam in Europa verwirklichen. Und die Politik? "Europa soll seine Staatsbürger respektieren. Es soll den Zuwanderer zum Staatsbürger machen und nicht wie zurzeit den Migranten im Staatsbürger suchen. Man soll nicht neue Außenseiter schaffen." Der islamfeindliche Diskurs schwäche Europa. "Wir könnten eine Weltmacht sein. Doch Europa glaubt nicht mehr an seine Werte."