Armenien sei ein Land der Überlebenskünstler, das von den Traditionen, speziell den religiösen aufrechterhalten werde. Ohne die familiäre Hilfe von außen könne ein Großteil der Bevölkerung nicht überleben, meinte ein westlicher Beobachter in der armenischen Hauptstadt Eriwan im Gespräch mit österreichischen Journalisten. Die wirtschaftliche Lage ist trist. Viele Armenier haben kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz. Jeden Tag sieht man lange Schlangen junger Menschen vor der amerikanischen Botschaft, die auf ein Visum warten.
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Rund eine Million Armenier haben seit der Unabhängigkeit des Landes im September 1991 ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit verlassen. Ein Großteil von ihnen ging in die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Wie viele es sind, weiß in Armenien niemand genau, aber man schätzt, dass es 38 Prozent der Gesamtbevölkerung sind. 42 Prozent sollen es im nördlichen Nachbarstaat Georgien sein und gar 55 Prozent in der östlichen Nachbarrepublik Aserbaidschan, mit der man um die Region Berg Karabach streitet.
Offen zur Schau getragenem Reichtum einiger weniger, die von mafiosen Strukturen profitieren, die zu bekämpfen Präsident Robert Kotscharian vor drei Jahren angetreten ist, steht weitverbreitete Arbeitslosigkeit und Armut gegenüber.
Acht Dollar staatliche Unterstützung bekomme er monatlich, berichtet der Sprecher der Bewohner des Österreichdorfes in der Erdbebenstadt Gumri, wo im Dezember 1988 ein Großteil der Industrieanlagen zerstört wurde. Seit dem Erdbeben ist er Invalide und hat keine Chance auf Arbeit, so wie die meisten Bewohner der 108 Häuser, die mit österreichischen Spendengeldern errichtet wurden. Um 300 Dollar hat die armenische Regierung die Häuser an die Bebenopfer verkauft, abzustottern in Monatsraten zu sechs Dollar, die sich die meisten nicht leisten können. Ein Drittel der Dorfbewohner hat das Österreichdorf mittlerweile verlassen und ist ins Ausland gegangen. 78 Hausbesitzer haben jüngst eine Petition an die Regierung unterzeichnet, in der um Hilfe gebeten und darauf hingewiesen wird, dass man die Rechnungen für Strom, Gas und Wasser nicht bezahlen könne. Notwendige Reparaturarbeiten an den Häusern könne man nicht durchführen, weil es an Material fehlt und selbst wenn es vorhanden wäre, könne man es sich nicht leisten.
Dabei sind die Bewohner des Österreich-Dorfes noch gut dran. 30 Prozent der auf 80.000 bis 100.000 geschätzten Einwohner von Gumri, dem früheren Leninakan, leben knapp 13 Jahre nach dem verheerenden Erdbeben noch immer in Notunterkünften.
Eine Oase in dieser Wüste der Armut ist das österreichische Kinderspital. Aber auch hier hat man die Bettenkapazität von ursprünglich 150 auf 60 reduzieren müssen, weil sich die Menschen einen Spitalsaufenthalt nicht mehr leisten können. Es gibt kein Geld für Medikamente und Verpflegung. Bloß die Heizkosten sind durch Spenden aus Österreich gesichert. Ein Arzt hier verdient 20 Dollar, eine Krankenschwester 15 und das restliche Personal 10. Und seit 17 Monaten hat niemand mehr ein Gehalt gesehen. Wovon die Menschen denn dann leben, fragen wir den technischen Verwalter des Spitals. "Wir leben nicht, wir vegetieren" ist seine erschütternde Antwort.
In jüngster Zeit haben einige chemische Betriebe neu aufgemacht. Diamantenschleifereien bringen Arbeit und in Berg Karabach hat ein Schweizer Uhrenbetrieb investiert, erfährt man auf die Frage, wo es denn überhaupt Arbeitsplätze gebe.
Auf der Fahrt durch den Süden des Landes nach Berg Karabach sieht man nur alte russische Betriebe, die vor sich hinrosten. Nach der Privatisierung unter der Regierung Ter Petrosian seien die Maschinen zum Schrottwert ins Ausland verkauft worden. Der Altpräsident erscheine kaum mehr in der Öffentlichkeit, seit er von wütenden Hausfrauen auf einem Markt tätlich attackiert worden ist.
Noch trister als in Armenien selbst scheint die Lage in Berg Karabach zu sein, wo aber offensichtlich Aufbruchsstimmung herrscht und wohin ausgewanderte Bewohner wieder zurückkehren. In der alten Hauptstadt Schuschi, wo vor dem Krieg 12.000 Menschen lebten, wohnen heute gerade 3000. Die Wunden des Krieges sind noch überall sichtbar. Von zahlreichen Häusern sind nur noch Ruinen übriggeblieben. Die muslimischen Azeris sind alle nach Aserbaidschan geflüchtet. Vor dem intakten Sommerhaus des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew treffen wir armenische Flüchtlingskinder aus Baku. Zwischen 300.000 und 400.000 Armenier sind aus Aserbaidschan nach Armenien geflüchtet, rund eine Million Azeris haben Armenien und Berg Karabach während des sechsjährigen Krieges verlassen, der auf beiden seiten je 15.000 Opfer gekostet hat.
Eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Stepanakert entfernt kann man das vielleicht traurigste Symbol des Konfliktes besuchen. In der Stadt Aghdam, wo vor dem Krieg 30.000 Menschen lebten, ist nur noch der riesige Friedhof intakt. Die Menschen sind geflohen, die Stadt wurde zerstört und in den Ruinen sammeln Armenier Metallteile und Bausteine für den Wiederaufbau in Berg Karabach.