Kampf mit Überalterung, Konjunktursorgen und dem Fukushima-GAU.
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Tokio. Japans Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die verheerende Tsunami-Katastrophe vom Frühling vergangenen Jahres hätte der Anfang des lang erhofften und dringend nötigen Wandels im Land sein können. Kurz nach der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg hatten Japan-Beobachter noch hoffnungsvoll über den Ruck geredet, der durch die Gesellschaft gehe und den Boden für echten Wandel bereite. Damals, als die Japaner plötzlich Energiesparweltmeister wurden, um zu verhindern, dass Stromnetz und Wirtschaft unter der Last des Fukushima-Unfalls zusammenbrechen. Und als sie voller Enthusiasmus die ersten Visionen für Ökostädte im Katastrophengebiet ausmalten, die gegen zukünftige Tsunamis resistent sein sollten.
Doch knapp 21 Monate nach Fukushima herrscht Stillstand. Die optimistischen Stimmen, die Japans Wandel herbeirufen wollten, sind wenige Tage vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 16. Dezember nicht mehr zu hören. "Unsere Parteien sind am Ende", urteilt Yasushi Kudo, Chef der politischen Denkfabrik "Genron NPO". Wirtschaftliches Dauertief, Überalterung, Energiewende und das Verhältnis zum Nachbarn China - bei keinem dieser Wahlkampfthemen könne man von der jetzigen Politikergeneration mehr erwarten als notdürftiges Flickwerk, glaubt Kudo. Wenig Hoffnung auf einen Aufbruch macht auch die Ausgangslage vor den Wahlen. Laut den Umfragen kann sich die Liberaldemokratische Partei (LPD) nach ihrer historischen Niederlage im Jahr 2009 am Sonntag gute Chance ausrechnen, die Demokratische Partei (DPJ) von Ministerpräsident Yoshihiko Noda als stärkste Fraktion abzulösen. Damit würde jene Partei an die Macht zurückkehren, die das Land der aufgehende Sonne über 50 Jahre lang fast ununterbrochen regiert hatte.
Wie behäbig und schwerfällig Japan oft auf die drängendsten Probleme reagiert, bekommt auch Eiichi Sato immer wieder zu spüren. Seine kleine Tokioter Technikschmiede "Opto Design", die eine Methode entwickelt hat, um LED-Licht gleichmäßig zu verteilen, zählt eigentlich zu den seltenen Lichtblicken in Japans darbender Elektronikindustrie. Mit Hilfe von Satos Patent könnten beispielsweise Leuchtreklamen und LCD-Bildschirme stromsparender werden. Momentan verhandelt der ehemalige Olympus-Ingenieur allerdings mit südkoreanischen und taiwanesischen Flachbildfernseher-Produzenten. "Wenn ich überleben will, muss ich mich im Ausland umsehen. Es ist schade, aber es geht nicht anders", erklärt Sato im japanischen Fernsehen. Er klingt dabei so, als ob er sich schuldig fühlen würde.
2050 sind 40 Prozent der Japaner über 65 Jahre alt
Die potenziellen heimischen Abnehmer von Satos Entwicklungen stecken schon seit längerer Zeit in der Krise. "Es tut mir sehr leid, dass ich schon wieder einen Verlust melden muss", entschuldigte sich der Chef des japanischen Elektronikriesen Sharp bei der Bekanntgabe des jüngsten Rekordverlustes mit gesenktem Kopf. Die schlechte Finanzlage gefährde den Fortbestand des Konzerns, warnte das Traditionsunternehmen kurze Zeit später. Sharp, Sony, Panasonic - in der Bilanzsaison jagte eine Hiobsbotschaft über unerwartet hohe Verluste die nächste.
"Die Entscheidungsprozesse in Japans Großunternehmen sind zu langsam. Das ist der größte Unterschied zwischen japanischen und koreanischen Unternehmen", kritisiert Wirtschaftskommentator Osamu Katayama. Sato gibt ihm recht. "Ich war erstaunt, wie schnell die Südkoreaner und Taiwanesen reagieren. Wenn die erkennen, dass etwas Potenzial hat und dazu noch Kosten senkt, greifen sie sofort zu", berichtet er von seiner Begegnung mit der asiatischen Konkurrenz. Wenn sie so weitermachten wie bisher, drohe Japans Elektronikriesen bald der Abstieg in die zweite Liga, warnt Katayama.
Ein weiteres drängendes Problem ist die Überalterung der Bevölkerung. Aus der alten Kohlestadt Yubari etwa ist die Jugend längst abgewandert. Von ehemals 120.000 Einwohnern sind knapp 40 Jahre später nur noch 11.000 übrig. Fast die Hälfte ist über 65 Jahre alt. Das Konzept, die schrumpfende Stadt mit massiven Infrastrukturinvestitionen als Touristenattraktion wieder zu beleben, schlug fehl. Vor fünf Jahren musste Yubari Insolvenz anmelden. Das Kunstmuseum, der städtische Winterdienst - jede Menge öffentlicher Dienstleistungen wurden abgeschafft. Die Gehälter der städtischen Angestellten wurden um ein Drittel gekürzt. Ein Ende der schmerzhaften Sparmaßnahmen ist nicht in Sicht. "Irgendwann wird Japan den gleichen Weg gehen", warnt Naomichi Suzuki, der 31-jährige Bürgermeister von Yubari nach seinem ersten Jahr im Amt in der Pleitestadt. Yubari sei nur der Anfang, warnt der ehemalige Tokioter Karrierebürokrat. "Wenn Yubari scheitert, heißt das für Japan nichts Gutes."
Keine Industrienation altert so schnell wie Japan. Im Jahr 2050 werden 40 Prozent der Japaner über 65 Jahre alt sein. Ohne radikale Reformen werde das Sozialversicherungssystem kollabieren, warnen Beobachter bereits seit Jahren. Die Rentenlast droht die Staatsschulden, die bei 210 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, bereits in absehbarer Zukunft ins Unermessliche zu treiben. Schon jetzt müssen die Sozialversicherungen Jahr für Jahr mit neuen Staatsanleihen in Milliardenhöhe refinanziert werden.
"Offen gesagt, Griechenland steht besser da als wir", urteilt Mitsumaru Kumagai, Chefökonom des Daiwa Institute of Research. Die im Sommer beschlossene schrittweise Erhöhung der Mehrwertsteuer von derzeit fünf auf zehn Prozent zur Finanzierung der Sozialkosten sei Japans Rettung, so Kumagai. Aber nur, wenn der Staat auch endlich die Reform des Sozialversicherungssystems in Angriff nehme und Leistungen streiche. Viel Hoffnung, dass die nächste Regierung den Durchbruch schafft, haben Japans Kommentatoren nicht. "Vor jeder Wahl versprechen uns die Parteien mehr Sozialleistungen. Nur über die Kosten redet niemand. Die jetzigen Wahlprogramme klingen wieder ganz genauso", kritisiert die liberale Tageszeitung "Asahi" resigniert.
Fukushimas Zukunft bleibt ungelöst
Bisher ist es der Politik auch noch nicht gelungen, die Fragen zu beantworten, die sich aus der Katastrophe in Fukushima ergeben haben. "Ich kann verstehen, dass wir ein Zwischenlager für den Atommüll aus Fukushima brauchen", sagt ein 66-jähriger Katastrophen-Flüchtling, der seinen Namen nicht nennen will. Seine Heimatstadt Okuma liegt zum Großteil in der stark verstrahlten Sperrzone. Der Rentner haust seit über einem Jahr in einer beengten Containerstadt für Fukushima-Opfer in einem relativ gering verstrahlten Teil der Präfektur. Seine alte Heimat ist jetzt Kandidat für ein Atom-Zwischenlager. Dort sollen radioaktiv verseuchtes Erdreich aus Wohngebieten und Feldern in der Sperrzone sowie Millionen Tonnen radioaktiv verseuchte Tsunami-Trümmer 30 Jahre lang zwischengelagert werden. Vor wenigen Tagen verkündete Umweltminister Hiroyuki Nagahama stolz, Fukushima habe nun endlich den Machbarkeitsstudien zugestimmt. Wenn alles klappt, werden die Lagerstätten Anfang 2015 in Betrieb gehen.
Offen ist hingegen, wie der Fukushima-Betreiber Tepco den geschmolzenen Kernbrennstoff aus den havarierten Reaktoren bergen und die Ruinen zurückbauen will. Während die japanischen Parteien über Machbarkeit und wirtschaftliche Folgen eines möglichen Atomausstiegs streiten, prüft die neu gegründete Atomaufsicht, ob Japans einziges AKW, das derzeit in Betrieb ist, nicht doch auf einer aktiven Verwerfung sitzt. Erdbebenforscher warnen, die vermutete Verwerfung könnte ein Mega-Beben auslösen, dem die Reaktoren nicht gewachsen wären.
Ungeklärt ist auch das zukünftige Verhältnis zu China. Das Szenario, das LDP-Chef und Wahlfavorit Shinzo Abe in seinen Wahlkampfreden heraufbeschwört, klingt bedrohlich. "Angenommen, ein Land greift unsere Senkaku-Inseln an", sagt er in Anspielung auf China. "Dann würden die USA uns gemäß unseres Sicherheitsabkommens verteidigen. Doch wenn unsere Selbstverteidigungskräfte die Amerikaner dann nicht mit Waffengewalt verteidigen dürfen, weil wir ihnen das Recht auf kollektive Selbstverteidigung absprechen, wäre die japanisch-amerikanische Allianz am Ende", warnt der außenpolitische Falke mit erhobenem Zeigefinger. Seine Forderung: Eine Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassungsänderung, um die Selbstverteidigungskräfte zu einem echten Militär aufzuwerten.
Nach der jüngsten Eskalation des Inselstreits mit China fällt Abes martialische Propaganda beim Wahlvolk auf fruchtbaren Boden. Im Herbst hatte Japan drei der fünf Senkaku- oder Diaoyu-Inseln, wie die Chinesen die winzigen, unbewohnten Eilande inmitten ressourcenreicher Gewässer nennen, einem Geschäftsmann abgekauft und verstaatlicht. Die folgenden antijapanischen Demonstrationen waren die brutalsten seit Jahren im Reich der Mitte. Die kleinste Provokation könne die beiden Wirtschaftsgiganten in die nächste Krise stürzen, warnen Experten.