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Land voller Ungeduld

Von Martyna Czarnowska aus Pristina

Politik

Die Kosovaren warten auf eine bessere Zukunft - und die Abschaffung der Visumpflicht für die EU.


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Pristina. Das Holz sollte dieses Mal ausreichen. Ruzdhi hat mehr davon eingekauft, damit sich die Situation vom Vorjahr nicht wiederholt. Die 15 Kubikmeter, die er damals besorgt hat, waren im März aufgebraucht. Doch der Winter erwies sich als hartnäckig, er wollte nicht weichen, und so musste die Wohnung weiter beheizt werden. Drei weitere Kubikmeter Holz mussten gekauft werden. Und das war dann teurer als zuvor: Den Gesetzen des Marktes entsprechend trieben die kalte Jahreszeit und die gestiegene Nachfrage die Preise in die Höhe, über die sonst üblichen 60 Euro pro Kubikmeter hinaus. Deswegen hat Ruzdhi, der seine vierköpfige Familie mit seiner Arbeit als Taxifahrer erhält, heuer gleich mehr Holz gekauft.

In Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, sind in manchen von kleinen Häusern gesäumten Straßen die neben den Gebäuden gestapelten Vorräte zu sehen. Zwar gibt es in etlichen Hochhäusern eine Zentralheizung, doch in vielen anderen Wohnungen greifen die Menschen noch immer auf Holz oder Kohlebriketts zurück. An windstillen Tagen hängt über der Stadt eine Wolke aus Smog. Sie legt sich auch über die Dörfer in der Umgebung.

Ungeliebte Rückkehr

In einem davon, in der Ortschaft Studime, lebt Fadil Sagonjeva mit seiner Frau und drei Kindern. Auch in seinem Haus steht ein alter Holzofen, der gleichzeitig als Herdplatte dient. Viel mehr hat in dem Zimmer, dem einzigen, das die Familie zum Wohnen hat, nicht Platz. Ein Tischchen, zwei Sofas, die auch zum Schlafen genutzt werden können, eine fast schon zu klein gewordene Wiege für die 16 Monate alte jüngste Tochter. Der angrenzende winzige Raum hat einen Betonboden und ein Abflussloch darin. Er wird als Badezimmer verwendet, eines, in dem Wasser erst fließt, wenn es jemand aus einem Eimer rinnen lässt. Die Toilette ist draußen, neben dem Stall. In dem steht seit ein paar Monaten eine Kuh. Angeschafft hat sie die Mutter Theresa-Gesellschaft, eine Nichtregierungsorganisation, die sich unter anderem im Auftrag der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) um Rückkehrer kümmert.

Denn auch die Familie Sagonjeva hatte sich, wie so viele andere im Dorf, auf den Weg nach Westeuropa gemacht, um dort Arbeit zu finden. Schon zuvor haben sie ein paar Jahre in Deutschland gelebt und wollten heuer, Anfang des Jahres, wieder hin. München war das Ziel. Die Orte, die sie auf ihrer Reise passierten, sind vielen Flüchtlingen bekannt. Von Mitrovica mit dem Auto nach Subotica, von dort zu Fuß über die serbisch-ungarische Grenze, von Szeged mit einem Taxi um 200 Euro nach Budapest. Doch im Zug Richtung Salzburg wurde die Familie aufgegriffen und zunächst nach Traiskirchen, später nach Trimmelkam gebracht. Kurz danach wurde sie in den Kosovo zurückgeschickt.

Hier aber "ist nix", sagt Fadil Sagonjeva. Wie sollen sie ohne Arbeit, von 60 Euro Sozialhilfe leben? Daher versuchen es die Menschen woanders, auch wenn etlichen mittlerweile klar ist, dass ihr Asylantrag in Deutschland oder Österreich abgelehnt wird. Manche gehen weg, obwohl sie in ihrem Land einen Job hätten, erzählt Zef Shala, Direktor der Mutter Theresa-Gesellschaft: "Aber sie wünschen sich bessere Ausbildung und Chancen für ihre Kinder, eine bessere Gesundheitsversorgung." 200.000 Menschen hätten den Kosovo, der rund 1,8 Millionen Einwohner hat, in den letzten vier Jahren verlassen.

Doch etliche von ihnen durften in Westeuropa nicht bleiben. Allein seit Mai sind nach Angaben des Innenministeriums in Pristina fast 20.000 Emigranten zurückgekehrt. Es gibt zwar Programme zur Reintegration, doch die finanziellen Möglichkeiten des jungen Staates sind begrenzt. Organisationen wie ADA springen ein, unterstützen sozial bedürftige Familien, entwickeln landwirtschaftliche Projekte mit oder helfen beim Aufbau einer selbständigen Tätigkeit.

Mit dieser tut sich aber der gesamte Kosovo, der erst vor knapp acht Jahren seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt hat und wo noch immer Nato-Soldaten patrouillieren, schwer. Seine Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen wird vom Nachbarland blockiert, die Handelsmöglichkeiten sind dadurch ebenfalls erschwert. Die ausländischen Direktinvestitionen waren im Vorjahr deutlich zurückgegangen: auf rund 150 Millionen Euro. Heuer sollen sie jedoch mit 400 Millionen Euro wieder wesentlich höher ausfallen. Die Überweisungen von im Ausland lebenden Kosovaren an ihre Verwandten in der Heimat, schätzungsweise 600 Millionen Euro jährlich, machen da aber noch immer mehr aus. Sie sind denn auch ein wichtiger Beitrag dazu, dass die Wirtschaft trotz aller Widrigkeiten wächst: Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt in den kommenden zwei Jahren zwischen drei und vier Prozentpunkten steigt. Die Arbeitslosenrate aber soll kaum sinken: Jeder dritte Mensch wird ohne Job sein.

Und dann kommt noch eine weitere Form der Isolation hinzu. Um in die EU reisen zu dürfen, brauchen Kosovaren ein Visum - etwas, was für alle anderen Bürger der Westbalkan-Staaten nicht mehr gilt. Wann sich das ändern wird, ist noch offen. Erst in der Vorwoche hat die EU-Kommission in einem Bericht festgestellt, dass die Regierung noch acht von fast hundert Anforderungen erfüllen muss, bevor die Abschaffung der Visumpflicht möglich wird. Diese rückt hingegen für die Ukraine und Georgien in Reichweite, und auch für die Türkei soll der Prozess der Visaliberalisierung beschleunigt werden.

Für die Politiker in Pristina sieht dies nach einer Ungerechtigkeit aus. So bezeichnet es denn auch Innenminister Skender Hyseni. "Wenn 25 Millionen Menschen aus dem Westbalkan frei in die EU reisen können, warum nicht ein paar hunderttausend Kosovaren?", wendet er ein. In kaum einem anderen Land sei die Jugend derart proeuropäisch, doch sie habe wenige Möglichkeiten, sich Europa anzusehen. Zumindest Westeuropa: Die einzige Richtung, in die die Menschen ohne Einschränkungen fahren können, sei der Osten.

Unverständnis und Ungeduld sind auch bei den Bürgern spürbar. Ulrike Lunacek kann das nachvollziehen. Die Grüne EU-Abgeordnete ist Kosovo-Berichterstatterin des Europäischen Parlaments und bekommt bei ihren regelmäßigen Besuchen in der Region immer und immer wieder die Frage gestellt, wann die EU endlich Visafreiheit gewähre. Doch auch wenn die Österreicherin selbst in Brüssel dafür wirbt, muss sie in Pristina ebenfalls darauf verweisen, dass nun einmal Bedingungen daran geknüpft seien. Gleichzeitig aber betont sie, immer und immer wieder, ob bei Pressekonferenzen oder bei Begegnungen mit Studenten: Die Freiheit zum Reisen bedeute nicht die Erlaubnis zum Arbeiten und nicht das Recht auf Asyl.

Parlamentsarbeit blockiert

Mit ihren Bemühungen und Besuchen hat Lunacek im Kosovo einige Bekanntheit erlangt. Ein Spaziergang mit ihr wird häufig unterbrochen: Passanten wollen die Parlamentarierin begrüßen, ihr die Hand schütteln oder ein gemeinsames Foto machen. Journalisten erscheinen zahlreich zu den Medienauftritten. Doch muss sich die Politikerin auch Kritik anhören. "Nur Versprechen gibt es, seit Jahren nur das", meint eine Studentin bei einer Podiumsdiskussion. "Nehmt es nicht als etwas Persönliches, gegen euch und den Kosovo gerichtet", entgegnet Lunacek dann. Und verweist auf die Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten selbst, auf politische Überlegungen - und ebenso auf die Fehlentwicklungen im Kosovo.

Dort ist die parlamentarische Arbeit nämlich derzeit gelähmt. Die Opposition protestiert gegen ein Abkommen mit Serbien über die Rechte der serbischen Minderheit sowie gegen einen Vertrag mit Montenegro zum Grenzverlauf. Plenarsitzungen blockiert sie seit Monaten - mit Tränengas-Attacken im Saal.

"Können hier etwas aufbauen"

Der Frust über die Politik trägt denn auch seinen Teil zum Gefühl der Perspektivlosigkeit unter den Menschen bei. Aber all dem zum Trotz gibt es genug Jugendliche - und immerhin ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre -, die ihre Zukunft im Kosovo sehen wollen. Anita gehört zu ihnen. "Ich will für mein Land arbeiten", erklärt die 19-jährige Jus-Studentin. "Wir sind eine junge Gesellschaft, wir können hier etwas aufbauen." Sie würde zwar gerne im Ausland studieren, doch dann möchte sie in ihre Heimat zurückkommen: "Ich habe das Gefühl, hierher zu gehören." Etliche ihrer Studienkollegen würden ähnlich denken.

Aber auch Anita hat Erfahrungen mit der Emigration: Ihr Vater arbeitet in Slowenien für ein Bauunternehmen. Damit finanziert er die Ausbildung der drei Kinder. "Wir verdienen eben noch nichts", fügt sie wie entschuldigend hinzu.

Das Durchschnittsgehalt im Kosovo liegt bei 400 Euro. Allerdings seien die Lebenshaltungskosten auch geringer als anderswo, beschwichtigen Regierungsvertreter. "Ein Kellner in Pristina verdient nun einmal nicht so viel wie einer in Wien", fasst es Innenminister Hyseni zusammen. Im Moment könne sein Land nicht mehr als das bieten. "Ich behaupte nicht, dass der Kosovo ein Eldorado ist", fügt der Politiker hinzu: "Aber ich kann auch nicht Behauptungen zustimmen, dass Menschen hier nicht überleben können." Die Regierung bemühe sich außerdem, die wirtschaftliche Situation zu verbessern, das Steuersystem und die Budgetpolitik zu reformieren, den Kampf gegen die Korruption zu verstärken. "In einem Jahr schon werden wir Erfolge sehen", glaubt Hyseni.