EU-Experte Emmanouilidis: Kommission kann nationalem Druck etwas entgegensetzen.
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"Wiener Zeitung":Mit der Nominierung seines Kandidaten Jean-Claude Juncker für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten hat sich das EU-Parlament gegenüber den Mitgliedstaaten durchgesetzt. Wird Juncker mit seiner Behörde dasselbe tun können?Janis Emmanouilidis: Das sehe ich kritisch. Aus ihrer Perspektive betrachtet, haben die Länder eine Lektion erhalten: "Vorsicht, wir müssen aufpassen, dass die Dinge für uns nicht außer Kontrolle geraten." Denn auch wenn sich die Regierungschefs bewusst hätten sein müssen, wozu die - vom Parlament lancierte - Idee der Spitzenkandidaten führt, waren viele von ihnen auf die Situation nicht vorbereitet. Sie werden künftig darauf achten, solche Situationen zu vermeiden.
Bedeutet das, sie haben diese Lektion gelernt und werden alles daran setzen, die Kommission nicht zu stärken?
Die Bereitschaft der Staaten, Kompetenzen an Brüssel abzugeben, ist sehr gering. Etliche Regierungen spüren den Druck nationalistischer Gruppierungen. Juncker wird dies einbeziehen müssen. Doch wenn er sich anpasst - und das bedeutet nicht, dass er sich unterwerfen muss -, könnte er diesem Druck etwas entgegensetzen.
Was folgt daraus für das Zusammenspiel der Institutionen?
Juncker hat vor Augen, dass er Koalitionen auf Ebene der Mitgliedstaaten schmieden und mit den Hauptstädten Kompromisse schließen muss. Das kann er auch gut; er ist ein erfahrener Politiker. Auf der anderen Seite gibt es jedoch das Parlament, das ihm sagen könnte, er sei "sein" Präsident. Damit wird Juncker jedoch wohl gut umgehen können. Schwieriger könnte es da schon werden, eine große Behörde wie die Kommission zu leiten.
Welche Rolle wird das Zusammenwirken mit Donald Tusk spielen, der zum künftigen Ratspräsidenten der EU bestimmt wurde?
Eine wichtige. Kommissions- und Ratspräsident brauchen einander. Und es kann gut funktionieren. Denn Tusk ist pragmatisch; auch er weiß, dass er in erster Linie um Kompromisse bemüht sein muss.
Werden die Koalitionen, die die beiden schmieden müssen, neue Partnerschaften hervorbringen? Ist die Nominierung des polnischen Premiers ein Signal der Stärkung Osteuropas?
Die Wahl Tusks ändert nicht viel an den Machtverschiebungen der letzten Jahre. Sie ist kein einschneidender Moment, sondern eine Widerspiegelung der Tatsachen. Sie reflektiert die Realität, die manche nicht wahrhaben wollten: dass Polen Gewicht in der EU hat, sich unter den sechs größten Unionsstaaten befindet und das größte der jüngeren Mitglieder ist. Dennoch wird Deutschland weiterhin eine tragende Rolle spielen und wird sich an der Schwäche Frankreichs in den nächsten ein, zwei Jahren wohl nicht viel ändern.
Ändert sich denn etwas an den Herausforderungen, vor denen die neue Kommission und die gesamte EU stehen? Die Arbeitslosigkeit sinkt kaum; die Grenzen einer gemeinsamen Außenpolitik zeigen sich in der Ukraine-Krise und im Konflikt mit Russland...
Das sind die zwei größten Herausforderungen. Zum einen alles, was mit ökonomischem Wachstum und Beschäftigung zusammenhängt, mit einer Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion. Zum anderen die Außenpolitik. Jetzt stellt sich etwa die Frage, wie wir mit Russland umgehen sollen. Es sind Entwicklungen, deren Verlauf nicht vorherzusagen ist - so wie beim Amtsantritt der scheidenden Kommission niemand das Ausmaß der Finanzkrise vorhersehen konnte. Es gibt keinen eindeutigen Trend. Aber wir sind in einer Umbruchphase: Ein Zurück zu der Normalität vor der Krise gibt es nicht.
Ein Trend ist jedenfalls nicht zu sehen: der zur Ausweitung der Union. In der scheidenden Kommission gibt es jemanden, der für die EU-Erweiterung zuständig ist. In der künftigen wird so ein Ressort wahrscheinlich fehlen.
Der Prozess der Erweiterung wird nicht gestoppt, aber das Momentum hat abgenommen. Die Stimmungslage zur Ausweitung der Union ist eher negativ. Wir kreisen viel mehr um uns selbst - und das schon seit Jahren. Der Reformeifer von 2010 oder 2011 hat zwar nachgelassen, aber wir haben noch mit etlichen Baustellen zu kämpfen. Und irgendwann wird sich die Frage stellen, ob das mit den bestehenden Verträgen machbar ist oder ob wir nicht die rechtlichen Grundlagen ändern müssen.
Um sich selbst zu kreisen, kann Gefahren bergen. Verlieren wir uns darin?
In Untergangsstimmung bin ich nicht. Die EU kann sich gut mit sich selbst beschäftigen. Und sie hat noch einiges zu tun.
Zur Person
Janis
Emmanouilidis
ist Chefanalytiker der in Brüssel ansässigen Denkfabrik EPC (European Policy Centre).