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Irina kann nicht nur Russisch und Estnisch. Das zehnjährige Mädchen antwortet sofort auf Englisch, wenn ihr eine Besucherin aus dem Ausland eine Frage stellt. Doch in erster Linie lernt Irina Estnisch. Sie ist eines von etwa 1.300 russischsprachigen Kindern, die die Grundschule am Stadtrand von Tallinn besuchen. Seit drei Jahren wird dort auch Estnisch, die Landessprache, unterrichtet.
Zweisprachigkeit wird in Estland in derzeit 28 Kindergärten und Schulen forciert, bis 2007 sollen 50 Prozent der russischen Schulen darauf umgestellt werden. Denn Sprachkenntnisse seien das wichtigste Instrument zur Bekämpfung der Armutsgefährdung für die russische Minderheit, argumentiert die Parlamentsabgeordnete Katrin Saks, früher zuständig für Integration. Russland wirft Estland immer wieder die Benachteiligung der Bevölkerungsgruppe vor: Die Russinnen und Russen genießen nicht alle Rechte, fühlen sich auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. "Ohne Sprachkenntnisse gibt es eben meist keinen guten Job", erwidert Saks.
Von den rund 1,4 Millionen EinwohnerInnen Estlands besitzen Saks' Angaben zu Folge 100.000 die russische Staatsbürgerschaft und 68.000 Menschen gar keine. Ihre Einbürgerung geht nur langsam voran, viele nutzen ihren russischen Pass, um ohne Visum nach Russland reisen zu können. Anders sieht es bei jungen Menschen aus: Sie blicken Richtung Westen, wollen einen estnischen und damit einen EU-Pass.
Auch die Politik hat sich geändert. "Anfang der 90er-Jahre meinte die Regierung, dass sich jene Russen, die hier geblieben sind, auf eigene Faust integrieren sollen", erzählt Katrin Saks. So entstanden zwei Gruppen, zwei Gesellschaften in einem Land. Doch mittlerweile werde Integration als staatliche Angelegenheit angesehen. Und haben vor zehn Jahren nur 14 Prozent der Russinnen und Russen Estnisch gesprochen, sind es jetzt 40 Prozent.
Von guten Erfahrungen mit zweisprachigen Ausbildungsprogrammen kann Anna Krolova berichten. Die Russin, die seit Jahren einen estnischen Pass besitzt, leitet eine höhere Schule in Tallinn. Vor einem Jahr wurde dort mit Unterricht auch in estnischer Sprache für 12- und 13-Jährige begonnen.
Die Motivation, die Landessprache zu lernen, sei in ihrer Schule sehr groß, berichtet Krolova: "Die Eltern wissen, dass das die Zukunft ihrer Kinder ist." Am Anfang war es allerdings schwierig, das Programm der Zweisprachigkeit zu erklären, erinnert sich die Direktorin. Die Eltern hatten nicht so sehr Angst vor dem Verlust der Muttersprache, des Russischen, als vor einer Absenkung des Unterrichtsniveaus. Diese Bedenken seien nun ausgeräumt, stellt Krolova fest.
Dass die Gründe, Sprachen zu lernen, auch soziale sind, räumt die Schulleiterin ebenso ein. "Viele lernen Fremdsprachen, um das Land verlassen zu können", sagt sie. Das Durchschnittsgehalt in Estland beträgt etwa 430 Euro, rund 18 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die Gefahr, dass junge, gut ausgebildete Menschen auswandern, besteht nicht bloß in der Theorie.