Auch nach den aktuellen Urteilen im Fall des armenisch-türkischen Journalisten sind die Hintergründe der Tat nicht völlig aufgeklärt.
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Der "tiefe Staat" schien im Jänner 2007 wieder an die Oberfläche gekommen zu sein. Jenes Netzwerk aus Nationalisten, Paramilitärs, Geheimdiensten und korrupten Beamten, die an den staatlichen Strukturen vorbei in der Türkei ihre Machenschaften betrieben haben - bis hin zu Vertreibungen, Folter und Morden an Minderheitenvertretern, Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen. Ein Opfer könnte der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink gewesen sein. Könnte; denn die Hintergründe seiner Ermordung sind nicht völlig aufgeklärt.
Der Fall beschäftigt weiterhin die Gerichte, auch nachdem am Freitag mehrere Hintermänner zu teils langen Haftstrafen verurteilt wurden. Dink war am 19. Jänner 2007 vor dem Redaktionsgebäude der Wochenzeitung "Agos" in Istanbul erschossen worden. Der damals erst 16-jährige Mörder Ogün Samast wurde kurze Zeit später zu fast 23 Jahren Gefängnis verurteilt, einer der Anstifter bekam eine lebenslange Haftstrafe. Doch war klar, dass mehr Menschen hinter dem Anschlag steckten: Dass Dink die Massaker an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts als Völkermord bezeichnete, brachte ihn ins Visier türkischer Nationalisten.
Politische Öffnung für kurze Zeit
Im aktuellen Prozess waren 76 Menschen angeklagt, von denen sechs in Haft waren. Wegen Mordes verurteilt wurden ein ehemaliger Polizeichef und ein Ex-Leiter des Polizei-Geheimdienstes. Langjährige Haftstrafen gibt es auch für weitere ehemalige Beamte, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung oder Dokumentenfälschung. Für die Anwälte und Unterstützer Dinks stand früh fest, dass Polizei, Gendarmerie und Geheimdienst von den Mordplänen gewusst, aber nichts zum Schutz des Journalisten unternommen hatten.
Dinks Ermordung hat in der Türkei eine Welle der Empörung ausgelöst. Zehntausende Bürger, ob Türken, Armenier oder Kurden, gingen auf die Straße, um ein Zeichen gegen fanatischen Nationalismus und eine Atmosphäre des Hasses auf Minderheiten zu setzen.
Nur wenig später kam es zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen Ankara und Eriwan. Die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan, damals Ministerpräsident, hatte sich eine "Null-Problem-Politik" mit den benachbarten Staaten zum Ziel gesetzt. 1993 hatte die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Armenien abgebrochen und die Grenzen zu dem Land geschlossen. Es war eine Solidaritätsbekundung für Aserbaidschan, das mit Armenien um die Region Berg Karabach im Konflikt lag.
Die - vor mehr als zehn Jahren - angedeutete Öffnung zum Nachbarn sollte eine im Inneren begleiten. Erdogan wollte einen Schritt hin auf die Minderheiten im Land machen, vor allem die größte Gruppe: die Kurden, deren Kultur und Sprache jahrzehntelang unterdrückt wurde.
Doch die Politik der Öffnung hielt nicht lange. Als integrative Anführerin in der Region konnte sich die Türkei nicht etablieren. Im Land selbst wurde immer härter gegen Oppositionelle, regierungskritische Journalisten, Aktivisten vorgegangen - was sich nach dem Putschversuch 2016 noch verschärfte. Für diesen wurde der in den USA lebende islamische Prediger Fethullah Gülen verantwortlich gemacht, gegen den in der Türkei auch ein Verfahren läuft. Der Vorwurf der Anhängerschaft brachte hunderte Menschen ins Gefängnis.
EU belässt es bei Mahnungen
Die EU, die mit der Türkei - derzeit auf Eis liegende - Beitrittsverhandlungen aufgenommen hat, mahnt Ankara immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Standards. Das hielten auch die Staats- und Regierungschefs nach ihrem Gipfeltreffen am Donnerstag fest. In ihrer Schlusserklärung erwähnten sie das Vorgehen gegen politische Parteien und "andere jüngste Entscheidungen", die den demokratischen Verpflichtungen zuwiderlaufen. Gemeint sind ein Verbotsverfahren gegen die von Kurden dominierte Oppositionspartei HDP sowie der Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention, die unter anderem zum Schutz von Frauen vor Gewalt beitragen soll. Es seien "schwere Rückschläge für die Menschenrechte", heißt es im Gipfeldokument.
Nichts zu lesen darin ist von Konsequenzen, die die Europäer wegen solcher Rückschläge ziehen könnten. Vor scharfen Sanktionen schrecken sie nämlich weiterhin zurück. Immerhin sind sie auch daran interessiert, dass Ankara die Verpflichtungen aus dem Migrationspakt einhält, der der Union bei der Sicherung ihrer Außengrenzen helfen soll. Und im Streit um Erdgasvorkommen im Mittelmeer hat sich die Türkei zuletzt auch gesprächsbereit gezeigt.
Daher kommt die EU der Beitrittskandidatin entgegen: Eine Ausweitung der Zollunion sowie Reiseerleichterungen für türkische Bürger werden in Aussicht gestellt. Zum Thema Demokratie und Menschenrechte heißt es lediglich: Der "Dialog" darüber bleibe "integraler Bestandteil" der Beziehungen.