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Ruanda steht im kollektiven Gedächtnis für Völkermord. Extremistische Hutu töteten etwa 800.000 Tutsi und gemäßigte Angehörige ihrer eigenen Volksgruppe. Mit Macheten, Knüppeln und Messern ermordeten sie ihre Nachbarn, Freunde und Kollegen. Das war 1994. Noch immer fordert die Sehnsucht nach Normalität in dem ostafrikanischen Land große Anstrengung. Das Rote Kreuz hilft bei der Bewältigung der Vergangenheit, indem es sich auch um Einzelschicksale bemüht.
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Jean-Baptiste hat sein Leben eingepackt und aufgeteilt: die Bücher in einen braunen Koffer, die Kleidungsstücke in eine zerschlissene blaue Sporttasche. Das für ihn wertvollste Stück aber hält er in einem Plastikköcher verpackt zwischen den Knien - einen Regenschirm. Jean-Baptiste ist 18 und fährt zum ersten Mal mit einem Auto durch sein Heimatland Ruanda. Darauf ist der schüchterne junge Mann stolz, auch wenn er gemischte Gefühle hat. Denn das Auto ist ein Rotkreuz-Jeep, der ihn zurück bringt in seine Kindheit und zu seiner Familie. An beides hat er nur eine schemenhafte Erinnerung, die er seit fast zehn Jahren aufrecht hält.
Er war acht Jahre alt, als der Genozid 1994 über Ruanda hereinbrach und seine Familie auseinander riss. Rund zwei Millionen Menschen flohen vor dem unbeschreiblichen Grauen in die Nachbarländer Ruandas.
Ruandas Kinder
Darunter waren auch Jean-Baptiste, seine zwei Brüder und seine Mutter. In den Wirren der Flucht verloren sie einander. "Ich habe nicht gedacht, dass ich sie je wieder sehen werde", sagt er. Mit seinen acht Jahren zählte er zu jenen 74.739 Kindern, die unbegleitet, allein und traumatisiert die Flüchtlingslager erreichten. "Fünf von sechs Kindern waren Zeugen der Morde, haben gesehen, wie Eltern, Geschwister, Verwandte starben", erzählt die Rotkreuz-Delegierte Claudia Niederer. Die Familienzusammenführungen sind eine zentrale Aufgabe des Roten Kreuzes in Ruanda. Für Tausende Menschen bedeutet die Wiedervereinigung mit ihren Kindern Meilensteine auf dem langen Weg zurück zur Normalität. Etwa 67.000 Kinder sind in den vergangenen neun Jahren heimgekehrt. Jean-Baptiste besuchte im Flüchtlingslager eine Missionarsschule. "Im Kongo habe ich es sehr gut gehabt, ich konnte lernen, ich hatte zu essen. Jetzt möchte ich Priester werden", beschreibt er sein Leben ohne Familie. Seine Schilderungen sind trockene Tatsachen, keine Spur von dem Leid, das ihm 1994 begegnet ist, liegt in seinen Worten.
"Diese unvorstellbaren Gräuel, die hier passiert sind, haben den Menschen die Emotionen geraubt", meint Claudia Niederer. Als Delegierte des Roten Kreuzes in der Provinzstadt Kibungo organisiert sie immer noch etwa fünf Familienzusammenführungen im Monat. "Manchmal kommen tot geglaubte Kinder nach zehn Jahren zu ihren Eltern zurück und die wieder vereinigten Familienmitglieder schütteln sich nur die Hand." Keine Umarmung, keine Träne, kein Fest. Als Jean-Baptiste in seinem Heimatdorf aus dem Jeep klettert, zuckt die Rührung auf seinem Gesicht. Den Regenschirm fest umklammert, umarmt er seine Mutter und seine beiden Großmütter - die einzigen Familienmitglieder, die er kennt. Alle anderen, die aufgeregt um ihn herum stehen, sind Unbekannte. Nach neun Jahren in der Fremde ist er heimgekehrt - zu Geschwistern, Cousinen, Tanten und Onkel, die ihm fremd sind. "Meistens gibt es nur noch die Mütter", erzählt die Rotkreuz-Delegierte. "Und die haben neue Männer. Ruanda ist eine sehr traditionelle Gesellschaft, in der es unverheiratete Frauen schwer haben."
Ziegen für die Frauen-Genossenschaft
Manche Frauen bleiben aber auch mit ihren Kindern alleine und übernehmen die Rolle des Ernährers und Familienoberhauptes. Aurélie Bagwaneza lebt mit ihren vier Kindern in Kabare im Nordosten Ruandas. Die trockene Savannenlandschaft rund um ihr Dorf war ein unbewohnter Nationalpark - ein Luxus in einem Land, das mit etwa acht Millionen etwa so viele Einwohner wie Österreich hat, sich aber nur über ein Drittel der Fläche erstreckt. Jetzt werden die zurückkehrenden Flüchtlinge dort angesiedelt, "Tutsi-Land" heißt die Savanne seitdem.
Die Witwe gehört einer landwirtschaftlichen Genossenschaft an. "Die Gemeinschaft ist für mich wie eine Familie", sagt die 44-Jährige. "Sie hilft mir, wenn meine Kinder krank sind, wenn ich zu wenig Geld für die Schule habe oder zu wenig zum Essen." Im Gegenzug bringt Aurélie die mageren Ergebnisse ihrer Ein-Frauen-Landwirtschaft ein.
Heute bekommt Aurélies Familie Zuwachs - eine Ziege, gestiftet vom Roten Kreuz. "Aus dem Verkauf von Zicklein und Fleisch können sich die Frauen selbst unterstützen und haben fremde Hilfe nicht mehr nötig", erklärt Claudia Niederer das Konzept 'Hilfe zur Selbsthilfe'. Etwa 120 solcher Projekte hat das Rote Kreuz 2002 durchgeführt und damit 27.000 Menschen unterstützt. Einen Teil des Erlöses sammelt Aurélies Gruppe in einer Blechdose, die ein Rotes Kreuz ziert. "Das ist unsere Gemeinschafts-Krankenkasse, damit bezahlen wir den Arzt, wenn wir einen brauchen", erklärt sie stolz.
Spendenkonto des Roten Kreuzes: PSK 2345000
Gabriela Hartig ist Informationsdelegierte des Österreichischen Roten Kreuzes und gerade von einer Reise nach Ruanda zurück gekehrt.