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Wien · Unter dem Motto "Brücken für den Frieden" fand im ORF-RadioCafé eine Diskussionsveranstaltung zur aktuellen Lage in Tschetschenien statt. An dem Streitgespräch nahmen der russische | Botschaftssekretär, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen sowie namhafte Wissenschaftler und Schriftsteller teil. Vor allem bei der Bewertung der russischen Vorgehensweise in der Kaukasus- | Republik gab es erhebliche Meinungsunterschiede.
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Der Vertreter der russischen Botschaft in Wien, Aleksej Korijakow, wurde dabei von teilweise recht massiver Kritik nicht verschont: In seinem Einführungsreferat verteidigte er die russische
Militärintervention in Tschetschenien mit dem Hinweis auf dort begangene Verbrechen wie massenhafte Geiselnahmen russischer und ausländischer Staatsbürger, Folterungen und der aus den Fugen geratenen
Gesamtsituation. Außerdem hätten tschetschenische Freischärler den Krieg durch Überfälle auf die benachbarte Republik Dagestan heraufbeschworen, was in den westlichen Medien jedoch kaum Beachtung
gefunden hätte.
Die russische Militäraktion diene einzig und allein der Wiederherstellung von Recht und Ordnung in einer von "Banditen" und "Terroristen" destabilisierten Teilrepublik der GUS. Dabei bezeichnete er
den Vorwurf, die in Moskau begangenen Bombenanschläge gingen auf das Konto des russischen Geheimdienstes und seien nicht von tschetschenischer Seite verschuldet als "wenig durchdacht" und "absurd".
In diesem Zusammenhang verwehrte sich der russische Botschaftssekretär gegen "populistische Ratschläge" und "hochmütige Belehrungen des Westens". Moskau werde keine Verhandlungen mit einem
"Schurkenstaat" aufnehmen und westliche Hilfsorganisationen erst dann in das Konfliktgebiet lassen, wenn für deren Sicherheit garantiert werden könne.
Ganz im Gegensatz dazu bezeichnete Franz Kumpel, Vertreter der Hilfsorganisation CARE, das russische Vorgehen im Kaukasus als "Erniedrigung, Bestrafung und Hinrichtung eines Volkes". Die
undifferenzierten Flächenbombardements der GUS Streitkräfte sowie der Einsatz von Boden-Boden Raketen seien als "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschheit" zu werten. Russland beschwöre
durch seine Weigerung, internationale Hilfsorganisationen in das Krisengebiet zu lassen, eine humanitäre Katastrophe herauf. Es herrsche bereits ein dramatischer Mangel an Medikamenten und sanitären
Hilfsgütern.
Kumpel kritisierte weiters, dass den internationalen Hilfsorganisationen ein eigenständiges Vorgehen in Russland durch die Behörden unmögich gemacht werde: Durch einen Erlass vom November 1999 seien
die Helfer gezwungen, unter russischer Aufsicht zu agieren. Er rief zur sofortigen Einstellung der Flächenbombardements, Aufhebung der Zugangssperre für internationale Hilfsorganisationen, sowie zu
einer klaren politischen Positionierung Russlands und des Westens auf.
Der Russland-Experte des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, Gerhard Mangott, machte in Richtung Korijakov darauf aufmerksam, dass die Rolle Russlands als Profiteur am
tschetschenischen Drogenhandel und anderer Verbrechen noch weitgehend ungeklärt sei. Für ihn habe der Konflikt aber eine weitgehend innenpolitische Logik. Es handle sich um einen Machtkonflikt in
Moskau, in dem der neue Präsident Putin die positive Aufnahme der russischen Intervention unter der Bevölkerung dazu nutze, seine Position zu legitimieren und zu festigen. Auf alle Fälle sei eine
zeitweilige militärische Niederschlagung des Aufstandes und die Installierung eines von Russland abhängigen Marionettenregimes auf Dauer keine zielführende Lösung. Russland werde über kurz oder lang
die Verhandlungen aus dem Jahr 1996 wiederaufnehmen müssen, wobei sich die Ausgangsposition dafür sicher verschlechtert habe.
Auch der kroatische Schriftsteller Boris Buden gab sich in seiner Einschätzung der Lage im Kaukasus eher pessimistisch: Die aktuelle Situation im Kosovo zeige, dass der Westen immer noch nicht in der
Lage sei, durch Intervention das friedliche Zusammenleben zweier Ethnien herzustellen. Ursache dieses Versagens ist für Buden der immer noch ungeklärte Widerspruch zwischen staatlicher Souveränität
einerseits, und nationaler Selbstbestimmung andererseits.
Einigkeit herrschte unter den Diskussionsteilnehmern nur in einem, allerdings sehr allgemein gehaltenen Punkt: Man müsse die Geschehnisse rund um Grosny einer differenzierenden Betrachtungsweise
unterziehen und dürfe weder die russische, noch die tschetschenische Bevölkerung einer generalisierenden Beurteilung unterwerfen.