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Langzeitgift nicht nur für Wale

Von Roland Knauer

Wissen

Längst verbotene Industriegifte bleiben hochgefährlich für Orcas und viele andere Tiere - auch für den Menschen.


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Berlin. Seit 25 Jahren beobachten Naturschützer des Hebridean Whale and Dolphin Trust Schwertwale, die vor der Atlantikküste Schottlands leben. In dieser Zeit wurde in der Gruppe von heute acht Orcas kein einziges Kalb geboren. Als im Jänner 2016 mit dem Orca-Weibchen Lulu das neunte Mitglied der Gruppe tot auf den Strand der schottischen Insel Tiree geschwemmt wurde, bestätigte die Obduktion einen lange gehegten Verdacht: Im Körper des Wals fanden die Forscher hohe Konzentrationen der längst verbotenen Polychlorierten Biphenyle.

Diese auch unter der Abkürzung PCB bekannten Substanzen könnten in den kommenden Jahrzehnten die Hälfte der weltweiten Killerwal-Populationen ausrotten, berichten Jean-Pierre Desforges und Rune Dietz von der dänischen Universität Aarhus und Ailsa Hall von der schottischen Universität St. Andrews im Fachmagazin "Science". "Wir wissen, dass PCBs nicht nur Orcas, sondern auch andere große Tiere im Meer - von Delfinen über Haie bis zu Thunfischen - gefährden", bestätigt der Meeresbiologe Fabian Ritter von der Berliner Wal-Schutzorganisation M.E.E.R. die Ergebnisse.

Seit 1929 wurden von diesen Substanzen mehr als eine Million Tonnen hergestellt und überall dort eingesetzt, wo eine besonders hohe chemische Stabilität gefragt war. PCBs isolierten in Transformatoren und Kondensatoren der Elektroindustrie, dichteten Fugen in Plattenbauten und waren als Hydrauliköle im Bergbau gefragt.

Mit der Zeit entpuppte sich jedoch gerade die Stabilität dieser Verbindungen als Riesenproblem: In der Umwelt werden PCBs nämlich anscheinend so gut wie gar nicht abgebaut. Gelangen sie einmal ins Meer, bleiben sie viele Jahrzehnte und eventuell auch viele Jahrhunderte dort. Und gelangen sie in die Mägen der Fische, landen sie irgendwann auch auf den Tellern und somit in den Mägen der Menschen.

Dabei wurde ab den 1970er Jahren die Produktion von PCBs eingeschränkt und 2004 weitgehend verboten. Winzige Organismen nehmen sie dennoch mit der Nahrung auf und geben sie kaum wieder ab. Fressen größere Tiere die kleinen, reichern sich die PCBs in ihnen weiter an, bis schließlich die ganz Großen - also Haie, Thunfische und Schwertwale - millionenfach höhere Konzentrationen im Körper tragen als das Wasser, in dem sie schwimmen. In einem Orca fanden die Forscher den Rekordwert von 1,3 Gramm PCB pro Kilo Fett, wo sich die Substanz vor allem ablagert. Doch schon in kleineren Mengen sind PCBs hochgefährlich: Sie schädigen das Immunsystem und erhöhen die Risiken bei Infektionen, bringen das Hormonsystem durcheinander, verzögern die geistige Entwicklung und machen unfruchtbar.

"Thunfische nicht allzuhäufig essen"

Betroffen sind vor allem Tiere ganz oben in der Nahrungskette - also Schwertwale, Haie und der Mensch. In der EU gelten strenge Grenzwerte für die Konzentration von PCBs in Innenräumen und Lebensmitteln (wie Fischen). "Trotzdem würde ich raten, Raubfische am oberen Ende der Nahrungskette, etwa Thunfische, nicht allzu häufig zu essen", empfiehlt Ritter.

Bei Orcas und Zahnwalen wachen keine Behörden über Grenzwerte in ihrer Nahrung. Forscher beobachten einen erstaunlichen Zusammenhang: Bei jungen Zahnwalen ist die PCB-Konzentration bei beiden Geschlechtern gleich groß, bei älteren Tieren haben hingegen die Männchen oft deutlich höhere Werte. Der Grund: "Die mit bis zu 30 Prozent extrem fettreiche Milch der Weibchen enthält viel PCB, die die Mütter ihrem Nachwuchs weitergeben", erklärt Ritter. Somit kommen die Orcas vor der schottischen Küste doppelt in die Bredouille: PCBs senken zum einen die Fruchtbarkeit. Kommt aber dann doch ein Junges zur Welt, trinkt es PCBs mit der Muttermilch, die sein Immunsystem schwächen. Die wenigen Kälber sterben oft früh an Infektionen.

Rune Dietz hat mit seinem Team die Schwertwal-Population weltweit unter die Lupe genommen und die kommenden 100 Jahre simuliert. Für verschiedene Meeresregionen zeichnen sich unterschiedliche Entwicklungen ab. Besonders hohe PCB-Konzentrationen finden die Forscher in den Orcas vor den Küsten der industrialisierten Regionen vor Schottland und Gibraltar, oder vor Japan und der Pazifikküste Kanadas. Dort wiederum sind insbesondere jene Schwertwale betroffen, die sich von großen Tieren wie Robben, Thunfischen und Haien ernähren, während auf Heringe und andere kleinere Beutetiere stehende Orcas weniger PCBs im Körperfett haben. Die Modelle zeigen, dass es den Schwertwalen im Südpolarmeer künftig im Hinblick auf die PCB-Belastung besser gehen wird als Populationen vor Schottland, die vom Aussterben bedroht sind.

Traditionsbewusstsein der Tiere verschärft die Situation

Die Situation verschärft sich durch das hohe Traditionsbewusstsein der Orcas: Die Jungen lernen ausgefeilte Jagdtechniken von den erfahrenen Schwertwalen, deren Weibchen bis zu 90 Jahre alt werden. Dabei spezialisieren sich die Gruppen: Manche jagen vor allem Heringe, andere werden zu Spezialisten für Lachs, erbeuten Robben oder überwältigen Haie und Stachelrochen. "Mit dieser Spezialisierung können die Tiere nicht einfach auf Heringe umschwenken, wenn der Lachs knapp wird", erklärt Ritter. Im Gegenteil: Wenn die Lachsbestände an der Westküste Nordamerikas überfischt werden, hungern auf Lachs spezialisierte Orcas.

Für Schwertwale dürfte es also schwieriger sein, mit der Situation zurechtzukommen, als die Modellrechnungen zur PCB-Belastung vermuten lassen. "Das gilt nicht nur für Orcas, sondern auch für kleinere Delfin-Arten", warnt Ritter. Auch in deren Fett reichern sich die Industriegifte an. Gleichzeitig fangen Menschen ihnen die Fische, von denen sie sich ernähren, vor der Schnauze weg. Wenn also die letzten acht Orcas vor der Küste Schottlands verschwinden, sind das Vorboten der massiven Probleme, vor denen nicht nur die Wale, sondern auch wir Menschen stehen.