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Lateinamerikas Lockdown-Hungersnot

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer und Ramona Samuel

Politik

Die Corona-Pandemie wird mit Zahlen von Toten und Infizierten erfasst - weniger mit denen der zerstörten Existenzen.


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Eliete Peixoto kämpft ums Überleben. Jeden Tag aufs Neue. "Alles ist zu. Die Lokale, die Restaurants, der Handel. Ich habe meinen Job verloren. Ich bin praktisch ohne Einkommen. Und wie mir geht es vielen hier in Vila Kennedy", erzählt die 40-jährige Brasilianerin. Eliete hat ein Baby, gerade einmal 18 Monate alt. Vom Staat bekommt sie etwa 170 Real (rund 30 Euro) Unterstützung über das Sozialprogramm "Bolsa Familia". Der älteste Sohn steuert noch etwas zum knappen Haushaltsgeld bei. Die Situation ist dramatisch. So wie Eliete aus der Favela in Rio de Janeiro geht es Millionen Menschen in ganz Lateinamerika.

Die Corona-Pandemie wird vor allem in Todes- und Infiziertenraten oder mit der Impfquote erfasst. Nicht aber mit der Zahl der zerstörten Existenzen durch die Kollateralschäden der Lockdown-Maßnahmen. Dabei sind diese Folgen mindestens so dramatisch wie die Covid-Daten. Vor kurzem veröffentlichte die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik (Cepal) die Armutsstatistik für 2021. Das Ergebnis: Die Region ist in der Armutsbekämpfung um 30 Jahre zurückgeworfen worden.

Heer der Hoffnungslosen

"Die wirtschaftliche Erholung 2021 war nicht ausreichend, um die tief greifenden sozialen Effekte der Gesundheitskrise auszugleichen", sagt Cepal-Generalsekretärin Alicia Barcena. Konkret bedeutet das: Das zweite Pandemiejahr hat die Zahl der von extremer Armut in Lateinamerika betroffenen Menschen auf 86 Millionen anwachsen lassen. Das sind noch einmal fünf Millionen mehr Menschen als 2020 - die höchste Zahl seit 27 Jahren. Es ist ein riesiges Heer der Hoffnungs- und Perspektivlosen entstanden.

Anders als in Europa oder den USA, wo die reichen Staaten die Einnahmeausfälle durch Kurzarbeitsgeld oder staatliche Hilfsleistungen ausgleichen und Milliarden Euro schwere Konjunkturprogramme auflegen können, fehlen den lateinamerikanischen Ländern diese Instrumente oder gibt es dort nur geringere Möglichkeiten der Unterstützung.

Immerhin ist die Solidarität unter den Menschen spürbar gewachsen. Ein Rettungsanker ist das etwa acht Kilo schwere, quadratische Hilfspaket der Favela-Organisation Cufa. Der Mann, der es an diesem Tag verteilt, trägt ein weißes T-Shirt, auf dem steht: "Gegen das Virus". Mario Sergio (41) weiß, dass von der Hilfe seiner Organisation das Überleben von Menschen wie Eliete Peixoto abhängt: "Für die Leute hier bedeuten diese Lebensmittel die Sicherheit, dass sie die nächsten Tage überleben werden. Das ist schon eine ganze Menge." Eliete bestätigt: "Ohne den Reis und die Milch von Cufa wüsste ich nicht, wie ich die Woche überstehe."

Auch Heidi Oliveira dos Santos (39) gehört zu denen, die von der Cufa Reis, Milch, Bohnen und Hygieneartikel beziehen. "Ich habe während verschiedener Veranstaltungen wie Karneval oder am Jahresende gearbeitet. Ich war von diesen Einnahmen abhängig, aber dann kamen die Pandemie und mit ihr die Verbote, und ich habe sämtliche Einnahmequellen verloren." Für Menschen wie Heidi ist es eine Katastrophe, dass in diesem Jahr der Straßenkarneval erneut abgesagt wurde und die Umzüge im weltberühmten Sambodromo auf den April verlegt wurden. Erst einmal. Omikron hat die Planungen über den Haufen geworfen. Trotz sehr guter Impfquote und hoher Impfbereitschaft vor allem in den urbanen Metropolregionen. Es hieß, der Karneval, für die Menschen im informellen Sektor eine der wichtigsten Einnahmequellen, sei dadurch gerettet. Doch dann kam die Verschiebung.

"Lieber mehr Arme als Tote"

"Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind dramatisch. Wir werden sehr lange brauchen, um uns davon zu erholen", sagt Cufa-Helfer Mario Sergio. Die Politik müsse sich eine Strategie überlegen, um jenen Menschen zu helfen, die durch die Wirtschaftskrise alles verloren hätten.

Monique de Mello (41) hat Kuchen und Süßigkeiten verkauft. Ein ordentliches Geschäft bei Betriebsfesten, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, mit dem sie ihre Familie über Wasser halten konnte: Doch die Pandemie brachte erst die Arbeitslosigkeit und dann die Armut. "Die Leute sind nicht mehr gekommen und haben nichts mehr gekauft. Die Angst vor Ansteckung, die Restriktionen. Jetzt verkaufe ich kaum noch etwas; das reicht nicht, um die Miete zu bezahlen." Covid hat der Frau nicht nur die Einnahmemöglichkeiten geraubt: "Eine Tante ist gestorben, ich habe Freunde verloren." Insgesamt starben in Brasilien rund 620.000 Menschen an den Folgen einer Covid-Infektion. Fast jede Familie kennt jemanden, den die Krankheit das Leben gekostet hat.

Monique wünscht sich Weiterbildungsprogramme: "Es wäre hilfreich, wenn wir uns fortbilden könnten, unsere Fähigkeiten ausbauen. Die Menschen hier wollen alle arbeiten, aber was tun, wenn es keine Jobs gibt?" Das kirchliche Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat spracht zuletzt sogar von einem "Armuts-Tsunami". Allein in Brasilien leiden 19 Millionen Menschen unter Ernährungsunsicherheit - sprich: Sie sind vom Hunger bedroht.

Noch schlimmer als in Brasilien ist die Lage in Argentinien. Präsident Alberto Fernandez entschied sich wohl aus politischem Kalkül zu einem Gegenentwurf der Strategie von Brasiliens rechtspopulistischem Präsidenten Jair Bolsonaro, der gegen die scharfen Lockdown-Maßnahmen seiner Gouverneure wetterte, weil sie die Wirtschaft zerstörten. Fernandez hingegen setzte wochenlange harte Lockdowns durch, die die Ausbreitung des Virus verhindern sollten. Der Linkspolitiker rechtfertigte sich damit, dass er "lieber zehn Prozent mehr Arme als 100.000 Tote" haben wolle. Inzwischen zählt Argentinien fast 120.000 Tote und erlebt eine desolate soziale Lage.

Die ohnehin schon große Armut bei Fernandez’ Amtsantritt 2019 stieg noch einmal dramatisch an: Die Katholische Universität UCA in Buenos Aires, gefürchtet wegen ihrer Unparteilichkeit, zählte Ende 2021 etwa 44 Prozent der Argentinier in Armut. Das sind noch einmal vier Prozent mehr als im ersten Pandemiejahr. Seit Fernandez die Beschränkungen aufhob, ging es wieder nach oben. "Covid hat den Trend verschärft hin zu einem immer ärmeren und prekärer werdenden informellen Sektor", unterstrich Agustin Salvia von der UCA.

Den Rest besorgt die hohe Inflation von rund 50 Prozent, die die Löhne jener auffrisst, die noch Arbeit haben. "Wir sind am Limit", sagte Bischof Oscar Ojea vor wenigen Wochen. "Wenn die Aufmerksamkeit für das Ausmaß der vorhandenen Not verloren geht, könnten wir uns in Situationen wiederfinden, die außer Kontrolle geraten."

Brutale Bandenkämpfe

Das alles hat Konsequenzen: Längst ist die Migration aus Süd- und Mittelamerika in Richtung USA angestiegen, erleben Länder wie Argentinien oder Peru politische Turbulenzen. Die Stabilität der Region ist erschüttert. Zudem kann die organisierte Kriminalität auf dem Boden der Armut prächtig wachsen. Das schnelle Geld ist noch verlockender, wenn es der einzige Ausweg erscheint.

In der argentinischen Industriestadt Rosario, der Heimatstadt von Fußball-Weltstar Lionel Messi, sind brutale Kämpfe der Banden um die Vorherrschaft ausgebrochen. Es kommt zu blutigen Kämpfen, längst nicht mehr nur in den Armenvierteln: "Wir wissen, was wir gerade erleben, insbesondere in Rosario, wo die Gewalt in den letzten Monaten einfach nicht aufgehört hat", konstatierte Rosarios Erzbischof Eduardo Eliseo Martin vor kurzem und lud zu einem "Marsch des Friedens" ein. Die Gewalt habe viele Menschenleben gekostet, Trauer, Schmerz und Blut gebracht. Wenn sie nicht gestoppt werde, drohe eine noch schlimmere Zukunft.