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Lauschangriff als Lackmus-Test

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

US-Präsident George W-Bush hat Lauschangriffe gegen US-Bürger genehmigt. In den USA tobt eine heftige Debatte über Sinn und Rechtmäßigkeit dieser Überwachung.


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So schnell Sie die Worte Karl Rove sagen können, so schnell verkommt die Debatte über das Antiterrorismus-Überwachungsprogramm der National Security Agency (NSA), der nationalen Sicherheitsbehörde der USA, zu einem kleinlichen Parteiengezänk. Statt einen Kompromiss zu suchen, bestehen beide, die US-Regierung und ihre Kritiker, auf dem absoluten Vorrang von Sicherheit oder dem absoluten Vorrang von Freiheit - bloß nicht auf einer vernünftigen Balance der beiden. Das erweist sich als verhängnisvoller Weg: Die Überwachungsdebatte der NSA verdient in der Tat den überstrapazierten Begriff "historisch". Sie ist ein grundlegender Test für die Autorität des Kongresses wie auch der US-Führung in Kriegszeiten.

Die Regierung versucht, das umstrittene Überwachungsprogramm durchzudrücken und führt schamlos die Familien der Terroropfer vom 11. September vor, um die Opposition einzuschüchtern. Bush-Berater Rove benützt die Debatte offensichtlich als Keil: Entweder bist du auf der Seite der Regierung, oder du bist automatisch auf der Osamas.

Liberale Interessensgruppen lehnen ebenfalls einen Kompromiss ab. Diese Woche drängten sie, wie man mir sagte, demokratische Kongressmitglieder, Änderungen bis nächstes Jahr aufzuschieben -- bis nach den Wahlen. Die Vorgehensweise des Präsidenten bezeichnen sie als illegal und verfolgen eine Klage gegen ihn. In der Zwischenzeit hängt das gesamte Überwachungsprogramm in der Luft.

Senator Lindsey Graham, ein Republikaner, der einer der wenigen ist, die sich weigern, den Parteienstreit mitzumachen, sagt, die Überwachungsdebatte verlangt nach einem modernen Gegenstück zum Fall Marbury gegen Madison, der 1803 die Parameter der juristischen Rechtsmittel des Kongresses und der Vollzugsgewalt etablierte. Andere fordern Verbesserungen, um das Programm besser in die bestehenden Gesetze einzubetten. Alle diese Ansätze sind der hartnäckigen Behauptung der Regierung vorzuziehen, alles sei in bester Ordnung.

Die letzte Sitzung des Justizsenats am Montag war voll von historischen Analogien, aber da gibt es vor allem eine, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Als die Südstaaten sich 1861 lossagten, setzte Präsident Lincoln radikale Schritte, um die Union zu erhalten.

Ohne legislative Amtsgewalt stellte er eine Armee auf, blockierte die Häfen der Südstaaten und verhaftete einen Kommandanten der Baltimore-Miliz, um Maryland von den Austrittsabsichten abzubringen. Als das Oberste Bundesgericht Lincoln zu stoppen versuchte, hob er die Habeas-Corpus-Akte auf. Aber bald nach dem Ergreifen all dieser Notfallmaßnahmen ging Lincoln zum Kongress, um nachträglich legislative Amtsgewalt für alles, was er getan hatte, zu erhalten.

"Diese Maßnahmen, ob völlig legal oder nicht, wurden unter dem Druck der öffentlichen Notwendigkeit gewagt", schrieb Lincoln am 4. Juli 1861 an den Kongress, um Rechtfertigung zu erhalten. Er sagte, er tat, was er als seine Pflicht erachtete und schloss mit den Worten: "Und Sie werden nun das tun, was Sie, ihrem eigenen Urteil entsprechend, als Ihre Pflicht erachten."

Lincoln tat genau das, was sich Bush bis jetzt zu tun weigert. "Lincoln tat nie etwas, nur um etwas zu beweisen. Er hatte ein Ziel, und das war, die Union zusammenzuhalten und den Krieg zu gewinnen", sagt Garrett Epps, Gastprofessor für Verfassungsrecht an der American University.

Die Bush-Regierung und ihre Kritiker müssten diese Vereinigungsvision Lincolns annehmen, denn entweder wird in der Antiterrorismus-Überwachungsdebatte eine Mittellinie gefunden, oder es gibt eben gar keine Linie.

Übersetzung: Hilde Weiss