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Le temps gagné

Von Anja Stegmaier

Leitartikel
Anja Stegmaier
© Luiza Puiu

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Der Pro-Europäer Emmanuel Macron gewinnt die Präsidentschaftswahl in Frankreich. Europa atmet auf. Grund zu Verschnaufen gibt es aber wenig. Zwar haben weniger Wähler als erwartet Marine Le Pen gewählt. Doch mit etwa 34 Prozent in der Stichwahl kann der extrem rechte Front National einen Erfolg feiern. Zudem gingen diesmal so wenige Franzosen zur Stichwahl wie seit 1969 nicht mehr. Mehr als 40 Prozent der Wähler , die Macron unterstützten, taten dies nur, um Le Pen zu verhindern - mit großem Widerwillen. Der neue Präsident hat wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Und es bleibt fraglich, ob er das zerrissene Land in den nächsten fünf Jahren einen kann. Die eigentliche Schicksalswahl steht zudem noch bevor. Bei den Parlamentswahlen am 11. Juni kann Macron nicht auf die Verhinderungsstimmen zählen. Der unabhängige Politiker muss ohne Parteiapparat eine verlässliche Mehrheit organisieren, um ein handlungsfähiger Präsident zu sein. Und er muss den Franzosen beweisen, dass die Entscheidung gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Nationalismus und für Europa die bessere war.

Erst nach dem 11. Juni wird klar sein, welche Bündnisse realistisch sind und wer mit wem koalieren wird. Macron hat bereits das Regieren mit wechselnder Mehrheit abgelehnt. Auch eine formelle Koalition mit einer etablierten Partei kommt für ihn nicht in Frage. Er setzt auf eine "Neubegründung des politischen Lebens", in der sich Sozialisten und Republikaner ihm anschließen sollen. Wird der Front National allerdings führende Oppositionspartei, wird Le Pen sich 2022 die Hände reiben können. Nach fünf Jahren einer schwachen Präsidentschaft steht der Front National in der logischen Position, die Regierung zu übernehmen. Denn Macron wird Präsident einer sehr wahrscheinlichen Kohabitationsregierung sein - mit wenig Rückhalt im Parlament handlungsunfähig. Die große Skepsis gegenüber dem politischen Neuling und der Frust, den ein schwacher Präsident verursacht, könnten dazu führen, dass Le Pen nur fünf Jahre warten muss, um doch noch Präsidentin von Frankreich zu werden.

Ein befreites Aufatmen in Europa ist also nur von kurzer Dauer. Mit Macrons Sieg hat die EU Zeit gewonnen (Le temps gagné, in Anlehnung an Marcel Proust). Es ist der Beginn von viel Arbeit unter mächtigem Zeitdruck, denn die Lage in Europa ist weiterhin so fragil wie nie zuvor.