Der Friedensforscher Thomas Roithner sieht den Ukraine-Krieg auch als Resultat grober westlicher Fehleinschätzungen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die ganze Welt blickt betroffen auf den Krieg, den Russland gegenwärtig in der Ukraine führt. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem Friedensforscher Thomas Roithner darüber gesprochen, wie eine weitere Eskalation des Konflikts bis hin zu einem Atomkrieg vermeidbar, wie ein Dialog möglich wäre, wie die weltweiten Machtverschiebungen möglichst gewaltfrei aufzufangen wären und welche Rolle internationale Organisationen dabei spielen könnten.
"Wiener Zeitung": Es gab in den vergangenen Tagen diese ganz entscheidende Situation, in der Russlands Präsident Wladimir Putin das russische Atomarsenal in Alarmbereitschaft versetzen ließ. Ein Schock. Interessant aber, dass die Nato nicht 1:1 geantwortet und ihre Bestände nicht gefechtsbereit gemacht hat. War das ein Schritt in die richtige Richtung?Thomas Roithner: Man hätte miteskalieren können, gleichzeitig muss man sagen, dass schon die Drohung mit Atomwaffen gemäß UN-Charta rechtswidrig ist. Auf die Gegendrohung zu setzen bedeutet, an der Eskalationsspirale zu drehen. Expertinnen und Experten schätzen das auch so ein, dass es höchstwahrscheinlich nicht zu einem derartigen Einsatz kommt. Es ist ein Pfeil im Köcher Wladimir Putins, den er jetzt einmal gezogen hat. In den letzten Tagen ist das auch kein zusätzliches Thema geworden.
Ja, aber Russland äußert gerade volles Verständnis für nordkoreanische Raketentests.
Ich sehe den Krieg in der Ukraine als Teil geopolitischer Spannungen und Machtverschiebungen. Wir beobachten das an vielen Konflikten. Es betrifft die Ukraine und das Verhältnis der USA zu China. Wir sehen das auf verschiedenen Schauplätzen, beim Einsatz russischer Söldner in Mali zum Beispiel. Es gibt eine ganze Reihe an Konfliktformationen, und dazu gehört auch die politische und ökonomische Opposition zum Westen. Wenn Putin dem Westen die Stirn bietet, dann heißt das, dass er alle Akteure, die vermeintlich oder tatsächlich seine Bündnispartner gegen den Westen sind, stärkt. Ich glaube aber schon auch, dass wir seit gut zwei Dekaden permanent von Russland aufgezeigt bekommen haben, wo - mehr oder weniger legitim und deutlich - rote Linien verlaufen und wo die Interessen Russlands signifikant verletzt worden sind. Russland hat uns das immer wieder auch auf prominenten Foren wie der Münchner Sicherheitskonferenz aufgezeigt. Wenn der Westen jetzt auf das Völkerrecht pocht, dann wäre es gut gewesen, wenn man das auch bei vergangenen Konflikten getan hätte.
Man hätte da doch ein bisschen genauer hinhören müssen? War der Westen doch zu überheblich?
Es soll den Krieg ein wenig erklären, aber es soll ihn nicht relativieren. Das ist ein völkerrechtswidriger Krieg und muss als das benannt und verurteilt werden. Aber wenn wir versuchen, einen Weg heraus zu finden, werden wir uns mit den Ursachen auseinandersetzen müssen. Wir haben in einem überheblichen Selbstverständnis, aber auch im Selbstverständnis, dass die internationale Entwicklung vorwiegend nach westlichen Regeln folgt, gelebt. Da hat es in den letzten Jahren ohnehin schon ordentlich geknirscht - Stichwort Seidenstraße. Jetzt geht es darum, Institutionen zu stärken, die inkludierend wirken und inkludierend agieren. Das sind etwa die UNO und die OSZE.
Wenn man die Sache betrachtet, erweisen sich die UNO und internationale Organisationen gerade jetzt als recht zahnlos.
Die UNO ist so stark, wie die Mitgliedstaaten es wollen. Die UNO wird, wenn sie hilfreich ist, als Instrument gebraucht, sonst sind nationale oder Bündnisinteressen Trumpf. Das ist eine rücksichtslose Durchsetzung von Interessen in der letzten Zeit. Ich nehme da keine Akteure aus. Das hat zum Teil auch zu den Spannungen geführt. Gelingt es uns, gemeinsame Sicherheitsinteressen zu identifizieren - ich denke da auch an den Klimawandel -, Aspekte, die uns gemeinsam betreffen, könnte das in den Debatten integrierend wirken. Wir haben enorm viel Vertrauen in den internationalen Beziehungen verloren. Wir sehen ja eine gewisse Abwendung Russlands von Europa und eine Hinwendung zu China. Es wäre sinnvoll, wenn wir konstruktiv an einer wetterfesten internationalen Ordnung mitbauen könnten.
Der Krieg in der Ukraine: Da steht die Person Putin im Zentrum. Man fragt sich, inwieweit er noch zurechnungsfähig ist, was in ihm vorgeht. Der Westen versucht, ihn auszutarieren, nicht weiter zu reizen und ihm mit knallharten Sanktionen zu verstehen zu geben, dass eine rote Linie überschritten wurde. Ist das der richtige Weg? Wie ist mit einem Diktator umzugehen, der unumschränkte Macht hat und der gefährlich ist?
Ich halte es für richtig, Klartext zu sprechen. Es ist ein völkerrechtswidriger Krieg, der nicht zu tolerieren ist. Gleichzeitig muss man Signale aussenden, wo man bereit ist, einen Dialog zu führen. Und versucht, auf die gemeinsamen Interessen und die gemeinsamen Institutionen zu bauen und diese Institutionen zu stärken. Ich glaube auch, dass es Punkte gibt, wo man Russland entgegenkommen kann. Nicht im Sinne der Relativierung des Krieges, das ist ganz wichtig.
Es gibt viele Stimmen, die ganz im Gegenteil sagen, dass wir viel zu kompromissbereit waren in den vergangenen Jahren. Zu blauäugig. Wir hätten zu viel auf Kooperation gesetzt, wir hätten schon viel früher knallhart "reinfahren" müssen. Auch militärisch.
Ich glaube, dass man Faktoren auseinanderhalten soll. Wo waren wir nachgiebig und wo haben wir Sicherheitsinteressen Russlands ein Stück weit überfahren. Da gilt es, genau hinzuschauen. Wir waren immer sehr kompromissbereit, wenn es um russisches Gas gegangen ist, zum Teil in Menschenrechtsfragen, welche politischen Akteure in welchen Aufsichtsräten sitzen. Gleichzeitig gibt es Punkte, da ging es um vertragliche Zusicherungen gegenüber Russland, was die Stationierungen von Truppen in Osteuropa betrifft. Da hat die Nato schon zu Tricks gegriffen. Fast ein wenig wie Hütchenspieler. Es gibt begrenzende Zusagen betreffend permanenter Truppen aus Nato-Staaten in Osteuropa. Um trotzdem stationieren zu können, lässt die Nato ihre Kräfte rotieren. Keine permanenten Truppen, aber trotzdem dauernd dort. Haarspalterei. Dass das Interessen von anderen verletzt, ist jetzt nicht schwer festzustellen. Und auch nachvollziehbar. Ich glaube, dass man bei solchen Punkten künftig etwas genauer schauen soll. Und nicht in einer moralischen Überlegenheit Dinge durchsetzen, die man jetzt vermeintlich durchsetzen kann. Wo ein anderer dann irgendwann eine alte Rechnung begleicht.
Zurück zur neuen Weltordnung, die jetzt im Entstehen ist. Ist der Krieg in der Ukraine da eine Geburtswehe oder ist das nicht so?
Ich glaube, dass das eine Reihe von Faktoren und ein Ablauf von Ereignissen sind. Auch die Besetzung der Krim war ein einschneidender Punkt. So wie auch Nato-Erweiterungen oder der Kosovo- und Irak-Krieg. Aber die Frage ist, wie wir eine internationale Ordnung schaffen können, die wetterfest ist, wenn sich diese Machtverschiebungen weiterhin gewaltvoll entladen sollten. Dass das in multilateralen Foren entsprechend aufgefangen wird.
Aber geht die Tendenz nicht gerade wieder zurück in Richtung Faustrecht?
Ja schon, aber nicht nur. Es gibt eine ganze Menge Staaten, die da dagegenhalten. 2017 hat sich eine breite Mehrheit dafür ausgesprochen, dass es einen Atomwaffen-Verbotsvertrag gibt. Da wird versucht, eine andere Sicherheitsdebatte loszutreten. Da geht es nicht nur um die Sicherheit von Staaten, sondern auch um einen menschlichen Sicherheitsbegriff: Opferschutz, Schutz der Lebensgrundlagen. Wir haben es bei der Ächtung von Bio- und Chemiewaffen gesehen: Niemand auf der ganzen Welt hat die Drohung mit diesen Waffengattungen gegenwärtig auf der Agenda. Wer es dennoch tut, ist einer massiven internationalen Ächtung ausgesetzt. Etwa im Krieg in Syrien, da hat es einen großen Aufschrei gegeben. Wir sollten den menschlichen Sicherheitsbegriff, den die Mehrheit der Staaten verfolgt, ins Zentrum rücken.
Die UN-Vollversammlung hat jetzt auch den Krieg in der Ukraine verurteilt. Und das hat eine moralische Kraft, die schon auch Wirkung zeigt. Das ist nicht nutzlos.
Genauso die Ächtung von Anti-Personen-Minen. Wer heute Minen ausbringt, wird international Ächtung erfahren. Genauso wie bei Streumunition. Das ist in die Moral in den internationalen Beziehungen eingegangen.
Russland-Experten sagen, dass Putin mit dem Rücken zur Wand steht, dass er nur noch die Möglichkeit hat, zu eskalieren. Wie groß ist jetzt trotz allem die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Krieg in der Ukraine ausweitet? Es muss ja nicht gleich zu einem Atomkrieg kommen.
Ich sehe die Gefahr, dass dieser Krieg internationalisiert wird und andere Akteure und Staaten da hineingezogen werden. Ich würde mich aber eher auf die Optionen fokussieren, die wir haben, damit das nicht passiert. Vor allem: Wir müssen in der Ukraine zu einem Waffenstillstand kommen. Das ist ein ganz zentraler Punkt für die Menschen vor Ort. Aber: Wenn sich diese Machtverschiebung weiter fortsetzt, stellen sich die Fragen: Funktioniert das immer noch, dass beispielsweise große und aufstrebende Mächte nur eine ganz kleine Rolle in den internationalen Finanzinstitutionen spielen? Oder sollen wir darüber einen Dialog führen, ob das noch sinnvoll ist?
Es gibt in Österreich eine Neutralitätsdebatte und einen Streit, ob ein Nato-Beitritt jetzt sinnvoll wäre.
Ich glaube, dass Neutralität in diesen geopolitischen Fragen genau aus der Block-Logik ausbricht. Es ist wichtig, dass Brücken und Vertrauen aufgebaut werden. So hat sich Österreich auch immer verstanden. Die Neutralität ist gerade in Zeiten, in denen die internationale Ordnung konfliktorientierter wird, ein bedeutender Mehrwert. Österreich ist von Nato-Staaten umgeben, niemand greift Österreich an. Wir haben zu wenige Kapazitäten im Einsatz, was zivile Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung betrifft. Da könnte Österreich sagen: Das ist unser Beitrag. Kein Mensch wartet auf die militärischen Kapazitäten, die Österreich in irgendwelche Bündnisse einbringt.