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Leben im Untergrund

Von Benjamin von Brackel

Reflexionen

Vor siebeneinhalb Jahren brachte ein kleiner Wurm unsere Vorstellung von den Grenzen des Lebens zum Einsturz.


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Lebt auf Biofilm in großen Tiefen: der nur einen halben Milimeter lange Fadenwurm "Mephisto".
© Gaetan Borgonie/ Extreme Life Isyensya (Eli)

Gaetan Borgonie tastet sich mit seiner Stirnlampe durch den dunklen staubigen Schacht, 1,3 Kilometer unter der Erde Südafrikas. Der belgische Mikrobiologe ahnt an diesem Tag Ende 2008 noch nicht, dass er den Beweis in der Hand hält, nach dem er so lange gesucht hat. Ein Jahr hat er nach Wasseradern in der Beatrix Goldmine gebohrt, einem der tiefsten begehbaren Orte der Welt. Mehr als 30.000 Liter Wasser aus dem Gestein ließ er durch ein feines Sieb in einem Plastikzylinder laufen. Seine fixe Idee: Selbst hier, kilometertief unter der Erde, müsse Leben zu finden sein.<p>Er weiß, dass er zu dem Zeitpunkt mit seiner Meinung ziemlich allein steht. Auch in den Lehrbüchern steht etwas anderes: Es sei zu heiß, der Druck zu hoch, der Sauerstoffgehalt zu gering. Nichts würde in dieser Tiefe überleben. Aber als Borgonie an jenem Abend mit dem Auto im 150 Kilometer entfernten Labor der Universität des Freistaats Bloemfontein ankommt und durch das Mi-kroskop auf die Probe blickt, erkennt er einen kleinen, verkrüppelten Wurm, gerade einmal einen halben Millimeter lang. Dem Forscher fällt eine Last von der Schulter. "Die bisherige Idee vom Leben unter der Erde war komplett falsch", erklärt er.<p>

Kleinstlebewesen

<p>Mephisto, so taufte er den Fadenwurm mit dem gebrochenen Schwanz aus Schacht 3, Level 26, Korridor 28. "Ich verbrachte mein gesamtes Wochenende damit, zu ihm zu sprechen: Bitte stirb nicht, bitte stirb nicht! Leg ein paar Eier, leg ein paar Eier!", erzählt der 49-Jährige.<p>Mikrobiologen und Geochemiker loten seither die Grenzen des Lebens neu aus. Längst überholt ist die Ansicht, der Erdboden sei nur bis zur Tiefe von Baumwurzeln oder eines Hasenbaus belebt. In der engen und heißen Welt in Kilometern Tiefe findet sich nicht nur ein unbekanntes Reich an Kleinstlebewesen, die anpassbarer sind, als lange für möglich gehalten wurde. Es könnten sich dort auch Hinweise auf die Ursprünge des Lebens finden, aber auch auf mögliches Leben auf anderen Planeten.<p>Die Mission von Gaetan Borgonie begann mit einer Tragödie. Im Jahr 2003 stürzte die US-Raumfähre Columbia ab, die Besatzung starb. Später fand man Reste eines Experiments an Bord: Fadenwürmer. Sie hatten überlebt. Borgonie gab das zu denken. Vier Jahre später stieß er in einer mexikanischen Höhle auf Mikroben, die in purer Säure lebten. "Deshalb dachte ich: Warum sollte ich nicht in die Bergwerke nach Südafrika", erzählt der Forscher von der Organisation Extreme Life Isyensya (Eli) in Gent.<p>Wenn er in einer der Minen mit dem Aufzug den Schacht hinab fuhr, spürte er, wie sich Druck in den Ohren aufbaute, so wie im Flugzeug. Die Kilometer durch die Korridore transportiere er die Instrumente zu Fuß, mit einem Zug oder einem Bügellift. Wegen der Hitze und dem Wasser, das stetig aus dem Felsen tropfte, herrschten Bedingungen wie in einer Sauna. "Es ist sehr heiß, dunkel, staubig und dreckig", erzählt Borgonie. "Aber es ist ein sehr großer, beeindruckender Ort. Viele Menschen laufen dort herum."<p>Die Minenarbeiter verstanden zwar nicht, was er dort tat, ließen ihn aber seine Arbeit machen, nachdem er sie beruhigt hatte, dass die Würmer nicht gefährlich seien.<p>Sein erster großer Fund war eine Mikrobe, die in 3,2 Kilometern Tiefe hauste. Bold Traveler, kühner Reisender. 2008 folgte mit Halicephalobus mephisto ein Vielzeller. Der Fadenwurm, der einem Strumpf in Miniaturformat ähnelt, pflanzte sich eingeschlechtlich fort und fühlte sich im Erdboden bei 37 Grad am wohlsten - auf einem Biofilm aus dem Sekret von Bakterien. Borgonie prüfte zunächst, ob der Wurm nicht über einen Bergarbeiter in die Tiefe gekommen war. Er nahm Proben des Bodens rund um die Bohrlöcher und des Minenwassers - und fand keine Fadenwürmer. Die Bleiche im Wasser hätte sie ohnehin getötet. Isotopenanalysen zeigten, dass das Wasser, in dem Mephisto lebte, zwischen 3000 und 12.000 Jahre alt sein musste.<p>Borgonie und sein Team entdeckten zwar weitere Würmer, aber immer nur einen pro 12.000 Liter. Also änderte der Belgier seine Strategie und ließ den Filter an einer Bohrstelle in einem verlassenen Korridor zwei volle Jahre durchspülen - mit nun zwölf Millionen Litern. "Als ich den Filter öffnete, fand ich einen ganzen Zoo von Hunderten von Würmern", erzählt der Mikrobiologe. Nicht nur die zähen Fadenwürmer, sondern Ringelwürmer, Plattwürmer, Rädertierchen, Pilze. "Wir haben ernsthaft unterschätzt, dass das Leben viel robuster ist, als wir gedacht haben."<p>Die Würmer atmen den Rest an Sauerstoff, der in der Tiefe noch übrig geblieben ist, und fressen Bakterien, die ihrerseits die verendeten Würmer verspeisen. Das größte Hindernis ist die Hitze bis zu 50 Grad. "Wenn die Würmer das schaffen, geht es ihnen ziemlich gut", erklärt Borgonie.<p>Er hält es für gut möglich, dass die Funde in Südafrika nur einen Ausschnitt abbilden: eines Ökosystems rund um die Welt. Auch im Untergrund Kanadas, Schwedens oder Indonesiens hätten Forscher Leben gefunden. Für Bor- gonie sind das keine sonderlichen Einzelfunde: "Wir sollten den Untergrund nicht als abgetrennten Teil ansehen", sagt er. "Es gibt einen durchgehenden Kontakt zur Oberfläche, Tiere wandern jeden Tag hinunter."<p>

Neue Evolutionssicht?

<p>Dabei darf man sich den Untergrund nicht als komprimierten Fels vorstellen, sondern als zerklüfteten Gesteinsbruch, durch den Wasser rinnt - und zwar hundertmal soviel wie alle Flüsse und Seen an der Oberfläche zusammen fassen. Noch gibt es viel zu wenig Proben, um den Anteil der Tiere unter der Erde zu bemessen. US-Forscher schätzen aber, dass die Biomasse im Untergrund schwerer ist als auf der Oberfläche.<p>Mit seiner Publikation im Fachblatt "Nature Communications" Ende 2015 sorgte Borgonie für einigen Wirbel in der Fachwelt. Der schwedische Mikrobiologe Karsten Pedersen sieht sich in seiner These bestätigt, dass das Leben nicht auf der Oberfläche oder in den Meeren begann, sondern im Untergrund. Dort herrschten zwar extreme, dafür aber stabile Bedingungen. Auch die kanadische Geochemikerin Barbara Sherwood-Lollar hält das für möglich. Das Leben sei zu einer Zeit entstanden, als sich die Erdkruste noch formte und Asteroideneinschläge sie immer wieder aufrissen. "Das Leben muss nicht unbedingt in Darwins kleinem warmen Teich an der Oberfläche entstanden sein", sagt die Professorin des Fachbereichs Erdgeschichte an der Universität Toronto. "Ein ähnlich plausibles Szenario wäre ein kleiner warmer Gesteinsbruch unterhalb der Oberfläche, wo es beschützter gewesen sein könnte."<p>Sherwood-Lollar arbeitet gerade daran, das herauszufinden. Den Blick in die Frühzeit der Erde ermöglicht ihr eine ungeheure Entdeckung aus dem Jahr 2007. In einer kanadischen Kupfermine unterhalb der Kleinstadt Timmins in Ontario war die Forscherin auf die Suche nach Wasser gegangen, das Millionen von Jahren im Gestein eingesperrt gewesen war. Gemeinsam mit einer Gruppe Studenten schnüffelte sie sich buchstäblich durch die Korridore der Kidd Creek Mine, denn das uralte Wasser ist mit schwefelhaltigem Gas vermischt, das nach faulen Eiern riecht. In 2,4 Kilometern Tiefe bemerkten sie etwas aus dem Fels sickern. Probebohrungen durch Bergarbeiter hatten das bis dahin isolierte Wasser freigesetzt. Sie entnahmen eine Probe und schickten sie den britischen Geochemikern Chris Ballentine und Greg Holland von den Universitäten Oxford und Manchester zur Edelgasuntersuchung.<p>Erst nach Monaten klingelte bei Sherwood Lollar das Telefon. "Wir müssen alles noch einmal wiederholen", sagte Ballentine. "Wir haben noch nie eine Probe gesehen, die so ausgeschaut hat wie diese." Sherwood-Lollar wusste, dass sie auf etwas Faszinierendes gestoßen war. "Diese Wasser waren die mit dem höchsten radiogenen Edelgas-Gehalt, die jemals in einem freifließenden Wasser entdeckt worden waren", erzählt sie. Die Geochemiker hatten die Edelgase Helium, Neon, Argon und Xenon auf ihre chemische Komposition analysiert, denn gerade durch ihre Trägheit und Inaktivität können sie das Alter von Flüssigkeiten extrem weit zurückbestimmen. Ein neuer Durchlauf zeigte: Das Wasser war zwischen 1,1 und 2,7 Milliarden Jahre alt.<p>Die spannende Frage war: Würden sie in dem Wasser Leben finden? Und was, wenn nicht? Wasser, in dem Leben existieren könnte, es aber noch nicht tut - einen größeren Schatz kann sich Sherwood-Lollar kaum vorstellen. Denn das könnte Hinweise darauf geben, wie das Leben auf der Erde entstanden ist.<p>Noch immer dauert die Analyse an. Die Forscher müssen die Biomasse aufspüren, den hohen Salzgehalt in den Griff kriegen, der das Metall zerfrisst, und Kontaminationen isolieren. "Die Geochemie des Wassers teilt uns aber bereits eines mit", sagt Sherwood-Lollar: "Die Biologie ist nicht der dominante Prozess. Die Berührung durch das Leben ist sehr schwach." Das heißt: Geologische Reaktionen dominieren in dem Wasser, wie in der Frühzeit der Erde. Darauf deutet der hohe Wasserstoffanteil von etwa zehn Millionen Mols hin, der durch Wasser-Gestein-Reaktionen entstanden ist. "Mengen in dieser Größenordnung bestehen nicht allzu lange, wenn es hungrige Mikroben in der Nähe gibt", sagt Sherwood-Lollar. "Das ist ein Beweis für die Dominanz von abiotischen Reaktionen."<p>

Neue Biosphäre?

<p>Möglicherweise könnten die einst zur Entstehung von Leben beigetragen haben - etwa der Bildung von Aminosäuren oder den Bausteinen der DNA. Sherwood-Lollar sieht den Prozess nicht nur auf die Erde beschränkt: "Wenn wir zeigen können, dass kilometertief in Milliarden Jahre altem Fels Wasser ist, das geschützt wurde und voll ist mit Energie, die das Leben unterstützen kann - dann ist es sehr plausibel, dass die gleiche Art von energiereichen Wassern im Untergrund des Mars gefunden werden kann."<p>Auch Borgonie plant, fremden Wesen auf die Spur zu gehen - allerdings auf der Erde selbst. Nur eben in einer Tiefe, in der noch keiner nachgesehen hat. Die Frage, die ihn antreibt: Wenn es so viele Organismen in drei Kilometern Tiefe gibt, warum sollten sie sich nicht in Millionen von Jahren an noch extremere Bedingungen in noch größerer Tiefe angepasst haben? "Dann würde man tatsächlich eine komplett neue Biosphäre finden", sagt er. "Ich denke, sie müssen dort sein, da muss noch etwas anderes sein, viel tiefer." Es klingt verrückt. Aber Borgonie kann zumindest auf die Petrischale in seinem Labor verweisen, in der sich Tausende kleine Würmer tummeln: Nachwuchs von Mephisto.

Benjamin von Brackel, geboren 1982, lebt als freier Umwelt- und Gesellschaftsjournalist in Berlin.