Wenn Weltschmerz, Trauer und Melancholie die Stunden schwarz malen, kriechen diese schrecklich langsam dahin. Euphorie, Glückseligkeit und Freude erhellen dagegen die Zeit, beschleunigen sie, und lassen die Stunden wie im Flug vergehen. Während psychisch Gesunde gelernt haben, diesen Wechsel als gegeben hinzunehmen und damit zu leben, kennen an Depressionen leidende Menschen überwiegend nur die erste Variante. Oft werden sie jahrelang von einem Gefühl extrem gedehnter Zeitabläufe gequält, was die negative Grundstimmung noch weiter drückt. Bisher hat sich die psychologische Forschung auf ihr Erkenntnis gestützt, dass Depressive die Fähigkeit verloren haben, Zeitspannen richtig einzuschätzen. Doch Zeit hat weitaus mehr Aspekte.
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Im Alltag spielen Pünktlichkeit, Zeitdruck, das individuelle Tempo, innerer Zeitdruck und Stress, die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, oder der Umgang mit Wartezeiten eine ebenso wichtige Rolle wie das Einschätzen von Zeitdauer. In einer Studie, in der die Zeitwahrnehmung von 86 stationär behandelten depressiven Patienten mit der von Gesunden detailliert verglichen wurde, haben Psychologen um Prof. Dr. Brigitte Edeler an der Universität Jena gezeigt, dass das Zeitempfinden erkrankter Menschen weitaus stärker und in viel mehr Zeitaspekten gestört ist, als bislang angenommen. Nach den vorläufigen Ergebnissen haben Depressive beispielsweise größte Probleme damit, pünktlich zu sein. "Betroffene sehen oft keinen Ausweg mehr aus ihrer Situation. Sie können sich zu nichts entschließen und planen weniger häufig und konkret als psychisch Gesunde. Deshalb fällt es ihnen auch schwerer, ihre Zeit einzuteilen und sich an Termine zu halten", so Edeler, die das Forschungsprojekt gestartet hat, um neue Aspekte zur Zeitwahrnehmung zu sammeln.
Weiters haben die Forscher herausgefunden, dass das Gefühl, sie könnten ihre aktuellen Probleme nicht lösen, Depressive dazu verleitet, die Vergangenheit zu verklären und sich nach ihr zurückzusehnen. Dieses Phänomen hat sogar einen eigenen Namen und wird mit dem Begriff "veränderter Zeithorizont" umschrieben. Auf den ersten Blick paradox wirkt auch ein anderes Ergebnis der Jenaer Psychologen: Obwohl Depressive häufig so viel Lebensenergie verloren haben, dass sie schon morgens nicht wissen, ob sie aufstehen oder lieber liegen bleiben sollen, fühlen sie sich öfter als psychisch Gesunde unter innerem Zeitdruck und Stress.
"Dieses besonders belastende Gefühl entsteht, wenn die Antriebslosigkeit der Patienten mit den Anforderungen der Umwelt - tatsächlichen oder bloß vorgestellten - in Konflikt gerät", macht Edeler den scheinbaren Widerspruch verständlich. "Wir haben zwar nachgewiesen, dass sich Depressive von psychisch Gesunden im Erleben vieler Zeitaspekte unterscheiden, doch wollen wir es dabei nicht bewenden lassen", meint sie.
So will ihr Team beispielsweise die Zusammenhänge zwischen dem gestörten Zeitempfinden der Patienten und ihrer Persönlichkeit und ihrem sozialen Umfeld verstehen lernen. Auch wollen die Wissenschaftler klären, ob das Stadium der Erkrankung oder die Art der Depression Einfluss auf die Zeitwahrnehmung hat. Dazu wird die Studie mit Klinik-Patienten aus Thüringen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Bayern weitergeführt. Therapieempfehlungen lassen sich aus den derzeitigen Ergebnissen noch nicht ableiten. Edeler: "Dazu muss zunächst noch untersucht werden, inwiefern die gängigen Behandlungen die unterschiedlichen Zeitaspekte überhaupt berücksichtigen und welche Rolle möglicherweise spezifische Gehirnprozesse spielen."