Der Nationalismus in der Türkei hat unterschiedliche Formen - und kann für das Land hemmend sein.
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"Wenn du an die Türkei denkst: Welcher große Name fällt dir als erster ein?" fragt Mehmet. Und antwortet gleich selbst: Mustafa Kemal Atatürk. Für den würde er sein Leben hingeben, sagt Mehmet. Er ist gerade einmal 26 Jahre alt, arbeitet als Sportjournalist - und er würde für Atatürk sterben.
"Wir drei sind alle Kemalisten", betont Mehmet und zeigt auf seine zwei Kollegen, mit denen er in einer Istanbuler Bar sitzt und zu englischer Rockmusik Bier trinkt. Der Begriff steht in seinen Augen für jene, die die Prinzipien der Verwestlichung hüten, wie es Atatürk aufgetragen hat. Genau so wird es auch immer wieder formuliert.
Der Gründer der türkischen Republik ist seit 70 Jahren tot, aber weiterhin allgegenwärtig - nicht nur deswegen, weil sein Porträt in allen öffentlichen Gebäuden zu sehen ist sowie auf allen Geldmünzen und -scheinen prangt. An seiner Person werden auch unzählige politische Debatten aufgehängt.
Wer ihn beleidigt, macht sich strafbar; ebenso wer die türkische Nation verunglimpft. So kann es auch vorkommen, dass ein Gericht die Website Youtube blockieren lässt, weil Atatürk in einem gefälschten Video etwa einen Bauchtanz aufführt.
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Der Stolz auf ihren Republikgründer ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstbewusstseins vieler Türken - wie auch ihres Nationalismus. Und der kann durchaus ausgeprägt sein. So braucht es keine Fußball-Europameisterschaft, um an jeder zweiten Straßenecke vor allem der westtürkischen Städte die rote Fahne mit dem weißen Sichelmond wehen zu sehen. "Wie glücklich, wer sagen kann, ich bin Türke": Den Ausspruch Atatürks kennen Kinder von ihren ersten Schultagen an. Diesen Satz lernen sie alle, ob Türken, Kurden oder Griechen.
Dabei kann der Nationalismus in der Türkei unterschiedliche Formen annehmen. So werfen türkische Nationalisten kurdischen Nationalisten vor, die Einheit des Staates durch separatistische Tendenzen zu gefährden. Faschisten hetzen gegen Menschenrechtsorganisationen und christliche Minderheiten, die sie als Missionare ansehen - und damit als Landesverräter. Und dann gibt es noch den islamischen Nationalismus, obwohl der Islam sonst die Religions- über die nationale Zugehörigkeit stellt.
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So scheinen diese Nationalismen in ihrer extremen Ausprägung für die Türkei oft gefährlicher zu sein als die religiöse Entwicklung. Sie sind auch hemmender für das Land auf seinem Weg in die Europäische Union. Die Ablehnung in der EU spürend, fühlen sich viele Türken in ihrem Stolz verletzt und wollen sich von Europa abwenden. Umgekehrt war es gerade eine islamisch geprägte Partei, die regierende AKP, welche von der EU geforderte Reformen gestartet hat.
Islam und Demokratie wollen viele nicht mehr als Gegensatz verstanden wissen. Laut einer Studie stieg von 1999 bis 2006 der Anteil der Türken, die sich als "ziemlich religiös" bezeichnen, von 25 auf 46 Prozent. Gleichzeitig wünschen sich 87 Prozent der Türken eine Demokratie.