Psychosomatik und Psychotherapie zur Krise in der Pandemie.
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Die Pandemie entpuppt sich als "Pannendemie", die uns deutlich die Grenzen unserer Verantwortung und unseres Wissens aufzeigt. Wie eine "Pandämonie" wächst sie uns hoffnungslos über den Kopf. Wie sehr unser Dasein ein leibliches und kulturell-kommunikatives Miteinander ist, wird uns durch dessen Beschädigung mehr als schmerzlich bewusst.
Mindestens ebenso schwer, wenn nicht noch gravierender als die Bedrohung unserer leiblichen Gesundheit, wirkt sich die Vernichtung von Sinn aus. Wissenschaft, Berichterstattung und Politik haben empfindlich an Glaubwürdigkeit verloren. Können Zahlen Handlungen und Entscheidungen begründen und Antworten darauf geben, was wir tun sollen? Ist Kriegsrhetorik zur Überwindung der Pandemie geeignet? Geht es nicht eher darum, vom Virus zu lernen? Von der Natur?
Seuchen wirken traumatisch. Sie reißen die Grenzen unseres Selbst ein, gefährden unsere Bindungen und Weltbezüge, letztlich uns selbst, sie vernichten über Menschenleben hinaus kulturelle Werte. Fragen entstehen nach dem Sinn der Pandemie. Hat die Menschheit Fehler gemacht? Warum gibt es Viren, die uns schaden? Welchen Stellenwert haben wir Menschen in einem System der Natur, in dem vernichtet wird ohne Hinsehen auf Gut und Böse? Sind wir nur Rohmaterial in einem Kraft- und Machtgefüge, dem wir ausgeliefert sind und das wir nicht verstehen?
Vor diesem abgründigen Nichts schützt uns zusätzlich zum biologischen ein kulturelles Immunsystem. Kultur ist kein Luxusgut, sie ist ein Fundament von Werten und gewachsenen Bedeutungen. Psychotherapie stärkt dieses kulturelle Immunsystem, indem sie ein Narrativ sich entwickeln lässt, eine sinnvolle Erzählung durch Emotion und Geist in einem komplexen Beziehungsgeschehen. Angesichts des Unheimlichen der Pandemieerfahrung mit inneren Ängsten, Depressionen und Körpersymptomen vermögen Sprache und Emotionalität des psychotherapeutischen Narrativs dem Unheimlichen Heimat zu ermöglichen, im Sinne von Geborgenheit und Hoffnung auf Heilung angesichts des Unheils.
Einsamkeit undbeschädigter Sinn
Die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung in der Pandemie stellen uns vor das Paradox, zugleich mit unfreiwilliger Nähe und erzwungener Distanz umgehen zu müssen. Laut einer 2018 veröffentlichten finnischen Studie mit 480.000 Patienten zwischen 40 und 69 Jahren in einem Beobachtungszeitraum von sieben Jahren erhöht sich bei Einsamen das Risiko für einen Herzinfarkt um 42 Prozent und für einen Schlaganfall um 39 Prozent gegenüber Menschen, die sich sozial eingebettet fühlen. Die Einsamkeit generiert ungesunde Verhaltensweisen und Lebensumstände. Eine britische Studie ergab, dass mehr als neun Millionen Briten in Einsamkeit leben. Daraufhin wurde ein eigenes Ministerium für Einsamkeit geschaffen.
Eine weitere sich ergebende negative und unterschätzte Konsequenz der anhaltenden Kontaktbeschränkungen besteht in der Behinderung von Ritualen des geselligen Lebens, von Sitten und Gewohnheiten und damit von Verhaltensregeln, die den Gruppenzusammenhalt fördern. Fallen bewährte und erprobte Traditionen, Gewohnheiten und Zusammenkünfte längere Zeit weg, muss mit einem Einbruch von Halt und Sicherheit beim Einzelnen und einem Vakuum im allgemeinen Zusammengehörigkeitsgefühl gerechnet werden, mit der Folge gesteigerter Angst- und Aggressionsbereitschaft.
Sinn vermittelt sich nicht zuletzt über die Sinne. Die Welt erschließt sich über Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, Begreifen. Wer durch die Infektion Geruch und Geschmack verliert, erleidet einen Verlust an sinnlicher Erfahrung der Welt. Ähnliches bewirkt ein Mangel an Berührung oder ein auf Dauer fragmentiertes Erleben im Umgang miteinander. Masken beeinflussen die Qualität der Begegnungen, die Wahrnehmung des Anderen und von uns selbst ist verändert. Die Stimme wird gedämpft, das Sprechen undeutlicher, das Erkennen des Anderen ist auf Gehör und Blicke beschränkt. Dieser Verlust an Gestalterleben bedeutet auch Verlust von Sinn.
Beschädigter Sinn erfordert es, neue Möglichkeiten und Hoffnung zu erschließen. Wo Sinn vernichtet wird, sind wir aufgerufen, Sinn zu beleben, durch Be-sinnung, indem wir uns fragen, was Wert für uns hat: Freundschaft, Familie, Liebe zu leben, Berührung, Umarmung, Zärtlichkeit und Erotik, sich frei zu bewegen, zu reisen, Menschen und Orte aufzusuchen, gutes Essen und schöne Gespräche gemeinsam zu genießen, Feste und Spiele, Musik, Tanz.
Die Ergebnisse von Forschung und Wissenschaft und stetig wachsende medizinische Kompetenz bieten immer bessere Chancen, unser Überleben zu sichern. Aber Leben will mehr als nur überleben, verlangt vielmehr Steigerung und Intensität, einen Reichtum an Sinn. Der Tod ist keine Alternative, aber reines Überleben ist ein verarmtes Leben. Wissenschaft und Technik allein können keine ganze Kultur erzeugen. Es braucht Kunst und Kultur, Rituale und Traditionen, die entleertem Sinn Geist einhauchen und unsere menschlichen Bindungen tragen und bereichern.
Psychosomatik und Psychotherapie bieten keine Erlösung, aber sie eröffnen Lösungen dafür, Ohnmacht, Angst und Schmerz im aufrechten Gang zu überwinden, der leiblichen, sinnlichen und geistigen Auszeichnung unseres menschlichen Daseins. Die anthropologische Besinnung erinnert daran, dass Sprachverwirrung, Separierung und der Taumel unsicherer politischer Entscheidungen zu überwinden sind.