Auch wenn manche das Modell "Familie" heute für überholt halten, ist es noch immer jene Institution, innerhalb derer man Rücksicht und Solidarität am besten lernen und leben kann. - Ein Plädoyer.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Familie hat etwas von einem alten ausgebeulten Pullover: Er hat sich dem Körper längst angepasst, er wärmt, man fühlt sich darin geborgen. Allerdings zieht man ihn gewiss nicht an, wenn man unter Leute geht. Denn unter Leuten präsentiert sich das Individuum gern als unabhängig und selbstständig.
Dennoch ist In-einer-Familie-Leben, Sich-der-Familie-Widmen und Von-der-Familie-Aufmerksamkeit-und-Zuwendung-Bekommen immer noch die Grundlage für eine sinnstiftende und damit menschenwürdige Existenz. "Familie" ist ein generationenübergreifendes Projekt der gegenseitigen Rücksichtnahme und des Sich-umeinander-Kümmerns.
Elementares Bedürfnis
Auch wenn "Familie" in manchen Ohren einen altmodischen Klang haben mag, so führt doch in Wirklichkeit kein Weg daran vorbei, wenn man sich Lebenszufriedenheit und eine positive Lebenseinstellung erarbeiten und bis ins höhere Alter erhalten will. Dabei ist es völlig unerheblich, ob Eltern verheiratet, heterosexuell, homosexuell oder sonst was sein mögen. Die Bestrebungen der Homosexuellen, auch Familie haben zu dürfen, zeigt, was für ein elementares Bedürfnis das Zusammenleben mit Menschen ist.
Wer das bezweifelt, der beo-bachte im Freundes- und Bekanntenkreis, wie nicht selten rund um den vierzigsten Geburtstag herum selbst bei hartgesottenen Familienmuffeln das Interesse an der Herkunftsfamilie - anders formuliert: das Bedürfnis nach Kontakt mit Menschen, mit denen man möglichst viel Vergangenheit gemeinsam hat - größer wird. Die Zukunft erwächst aus einer mit Menschen geteilten Vergangenheit.
Ohne Zweifel ist das Projekt "Familie" für alle Beteiligten bisweilen mühsam, doch das ist nichts Besonderes, denn das ganze Leben ist bisweilen mühsam, manchmal unvorstellbar mühsam. Die Frage ist vielmehr, woraus wir Kraft, Sicherheit und Zuversicht für unser Leben schöpfen können, wenn nicht aus unserer Herkunft, unserem Aufwachsen, aus dem Kontakt mit den Menschen, die uns lieben.
"Wer sich in Familie begibt, kommt darin um", zitierte meine Generation in der Jugend Heimito von Doderer. Betrachtet man die Statistik, so stellt sich heraus, dass wir mit Doderer irrten, denn es scheint vielmehr so zu sein, dass Singles eine signifikant geringere Lebenserwartung haben als Verheiratete, sprich als In-Familien-Lebende. "Familie" organisiert uns im Leben so, dass allfällig auftretende Sinnkrisen und Angst vor Einsamkeit weniger ins Kraut schießen. Soziale Isolation, sprich Einsamkeit, ist ein das Leben verkürzender Faktor, der nun einmal bei Singles häufiger auftritt als bei Menschen, die in einer wie immer im Detail kritikwürdigen Familie verankert sind.
Problem Einsamkeit
Diesen Sachverhalt fasste mein Gatte einmal mit der lapidaren Feststellung zusammen: "Mein Bankkonto ruft mich nicht an." Der Journalist Harald Martenstein formulierte es in seiner "Zeit"-Kolumne ähnlich lakonisch: "Der Sinn des Kinderkriegens besteht darin, dass, wenn man alt ist, an Weihnachten jemand anruft."
Einsamkeit ist in unserer auf Bindungen verzichtenden Gesellschaft ein Problem - nicht nur am Lebensende. Dementsprechend Furore machte Gudrun F. Widloks Dokumentarfilm "Adopted", der zeigt, wie sich zahlreiche Europäer auf ein Kunstprojekt hin meldeten, um sich von afrikanischen Großfamilien adoptieren zu lassen. Schließlich brachen tatsächlich drei Deutsche ihre heimatlichen Zelte ab und ließen sich von Familien in Ghana aufnehmen, um ihrer sozialen Isolation in Deutschland zu entkommen.
Familie ist das Institut schlechthin, in dem man Rücksicht und Solidarität üben lernt. Diese beiden Begriffe sind im Zeitalter der Individualisierung - wie man die Selbstverwirklichung des vergangenen Jahrhunderts nunmehr soziologisch nennt - wenig gebräuchlich. Nur am 1. Mai und dann vielleicht noch, wenn es um die zu sichernden Pensionen der Alten geht, erinnert man sich dieser gesellschaftsformenden Kräfte. Ansonsten haben wir uns so eingerichtet, dass wir genau das nehmen, was wir brauchen. Den Rest des Angebots und erst recht der Forderungen ignorieren wir. Es könnte einem bange werden, wenn man sich ausmalt, in welch barbarische Tiefen wir schlittern, wenn das Miteinander und das Füreinander ihren Wert verlieren.
Skurril muten die Beschwichtigungsgesten gegenüber den Jungen an, die schon jetzt manchmal aufmucken und sagen, sie hätten keine Lust, auf der Basis des vielzitierten Generationenvertrags für (hohe) Pensionen aufzukommen. Wenn meine Generation in Pension geht, dann wird die Last für die Jungen enorm sein. Wir Anfang der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts Geborenen sind sehr viele. Und wenn wenige mit diesen sehr vielen finanziell solidarisch sein sollen, dann wird das für diese wenigen ziemlich teuer. Es könnte auch sein, dass jemand auf die Idee kommt, den Gedanken der Solidarität nicht nur in eine Richtung zu denken. Wieso sind die Älteren und Alten nicht mit den Jungen solidarisch?
Solidarität muss man üben. Wer das erste Mal etwas für jemanden tut, ohne sofort eine Gratifikation zu erhalten, weiß nicht recht, ob ihm dieser Zustand gefallen kann. Das Wissen um die Umwegrentabilität von im Moment selbstlosen Handlungen kann man sich nur durch Erfahrung aneignen. Ganz allgemein habe ich allerdings den Eindruck, unsere Gesellschaft ist derzeit eher damit befasst, das Jesus-Wort, nach dem Geben seliger sei denn Nehmen, umzukehren. Ob das die Richtung ist, die in eine angenehme oder auch nur erträgliche Zukunft führt, wage ich zu bezweifeln.
Meine Freundin G. hat für solche Sentimentalitäten nichts übrig. Als sie mich nach einer besonders anstrengenden Nacht - nach Jahren mit häufig öfter als dreimal pro Nacht unterbrochenem Schlaf - kritisch beäugte, mahnte sie mich, weniger auf meine Kinder und mehr auf mich selber zu schauen. Die Kinder würden mir meine Mühen ohnehin nicht entgelten. Ich dankte meiner Freundin die Sorge um mich, die ich übrigens teilte, insbesondere in der Morgendämmerung, wenn mein ganzer Körper manchmal vor Müdigkeit schmerzte und ich dennoch aufstehen musste, um ans Bett eines der drei Kinder zu eilen.
G. hatte recht, es ging mir nicht gut ohne Schlaf. Um halb sechs in der Früh sah ich aus, als wäre ich geprügelt worden. Dennoch war ich der Meinung, aufstehen zu müssen, wenn eines der Kinder aufwachte und weinte. Und im Übrigen sei die Investi-
tion in meine Familie eine Investition, die nicht nur den Kindern, sondern auch mir selbst zugutekomme. Denn meine Familie werde dadurch für die Zukunft gefestigt. G. schnaubte nur angesichts meiner Naivität. Sie riet mir, Geld zu sparen, um dereinst im Alter jemanden für seine Gesellschaft und/oder Hilfe zu bezahlen.
Nicht nur Nützlichkeit
Harald Martenstein fährt übrigens in seiner "Zeit"-Kolumne zur Frage, wozu man überhaupt Kinder bekommt, damit fort, darzulegen, dass die Anrufe seiner Kinder ziemlich teuer kämen, wenn man alle Investitionen im Laufe ihres Heranwachsens von Klavierunterricht bis Zahnspange zusammenzähle. Um diese Menge Geld hätte er auch Mario Adorf oder Susan Sarandon bitten können, am Weihnachtsabend zum Hörer zu greifen. Die Schauspieler würden - anders als Martensteins Kinder - ihr Gelangweiltsein gewiss professionell verbergen. Der Autor schrieb diese Kolumne übrigens, kurz nachdem er zum zweiten Mal Vater geworden war.
Rationale Überlegungen reichen nicht hin, wenn es um Beziehungen geht: Denn es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass sich ersprießliche Beziehungen ausschließlich nach Aspekten der Nützlichkeit gestalten lassen. Eltern erwarten nicht für alles, was sie für ihre Kinder tun, Gegengaben. Es ist vielmehr so, dass Eltern den Beweis dafür liefern, dass Altruismus zumindest bisweilen Egoismus besiegen kann. Ich finde, das ist schon einmal ein großer Pluspunkt, der für das Elternsein spricht.
Ich selbst meine damit gar nicht, dass meine Kinder bis zu meinem seligen Hinscheiden um mich herumwuseln und mir stets zu Diensten und vor allem dankbar sein sollen. Was ich aber durchaus zuversichtlich erwarte, ist, dass meine erwachsenen Kinder mich besuchen, und ja: dass sie mich gelegentlich anrufen und mir aus ihrem Leben erzählen. Durch sie werde ich an der Gestaltung der Zukunft Anteil haben, wenn meine eigene Zukunft absehbar endlich geworden ist. Und vielleicht ist es, auch wenn das auf den ersten Blick abwegig klingt, ein Privileg, sich um jemanden Sorgen machen zu dürfen. Eltern sorgen sich immer um ihre Kinder, bis zuletzt. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, woher Eltern die Kraft und die Ausdauer nehmen, Eltern sein zu können.
Die rigorose Kosten-Nutzen-Rechnung in Bezug auf Kinder begegnet einem nicht selten bei Kinderlosen. Ich war selbst lange genug kinderlos, um zu wissen, wovon ich spreche. Sie behaupten, vorausschauend gehandelt zu haben, indem sie ihre Ressourcen nicht auf Dritte vergeuden. Doch tatsächlich geht es im Leben nicht so sehr um Sicherheit als um Vertrauen. In zwischenmenschlichen Angelegenheiten kann man keine Versicherung gegen das Scheitern abschließen. Es bietet sich vielmehr an, darauf zu vertrauen, dass alle in der Familie ihr Bestes geben werden, damit es allen gut geht. Wie könnte man sein Leben positiv gestimmt und in Zuversicht leben, wenn es einem so grundlegend an Vertrauen mangelt?
G. argumentierte, Kinder hätten keine Lust, sich mit den Alten zu belasten. Es seien insgesamt auch zu viele Alte auf zu wenige Junge. Und die heutigen Kinder seien alle dazu erzogen, zuerst an sich selbst zu denken. Und von wem, fragte ich zurück, haben sie all das gelernt?
Von sich selbst absehen
Noch einmal: Es geht im Leben um Vertrauen. Wer vertrauen kann, der hat ein schöneres Leben als der, der ständig fürchtet, enttäuscht und hintergangen zu werden. Und gemeinhin ist es leichter, Vertrauen in Menschen zu setzen, die man kennt, als in solche, die man nicht kennt. Zusammenfassend möge der Hinweis auf das für Erwachsene frustrierende Märchen "Hans im Glück" verdeutlichen helfen, dass Lebenszufriedenheit auch jenseits von Vorteil und Erfolg üppig gedeihen kann.
Familie ist das Institut, in dem wir als Erwachsene noch lernen, uns selber nicht unausgesetzt als das Maß aller Dinge zu sehen. Von sich selbst absehen zu können weitet den Blick mehr als manche Fernreise. Weil das so ist und das auch die meisten wissen, konnte die Statistik Austria im Jahr 2013 etwas mehr als 1,4 Millionen Haushalte mit Kindern verzeichnen. Doch außer den Homosexuellen, die begreiflicherweise den Wunsch hegen, endlich Kinder adoptieren zu dürfen, spricht kaum jemand über den unschätzbaren Wert von Kindern in einer Familie. Der Zeitgeist duldet das Thema Kinder nur in seiner problematischen Ausformung: Kosten, Betreuung, ungenügende Schulperformance und so weiter und so fort. Dazu kommt die obsessive Beschäftigung mit den verschiedenen Arten des Scheiterns, die dann unter dem Sammelbegriff "Patchwork" in unser Weltbild Eingang finden. Der Zeitgeist verbietet uns, Kinder als das zu bezeichnen, was sie sind: verbindlich sinnstiftend für alle, die mit ihnen in Beziehung stehen. Der Zeitgeist legt uns vielmehr nahe, Familie nicht so wichtig zu nehmen, wie sie uns eigentlich ist.
Familie soll zwar das Zentrum unseres Lebens sein, aber wir wollen möglichst wenig Energie dafür aufwenden, möglichst wenig davon belästigt werden. Deshalb befiehlt uns der Zeitgeist als erste Regel, unsere Kinder möglichst früh und möglichst lange außer Haus zu geben. Übrigens folgen wir dabei, ohne es zu wissen, den alten Prinzipien der nicht für ihre Herzenswärme bekannten Prinzenerziehung, die später vom Großbürgertum übernommen wurden.
Wenn eine Mutter oder ein Vater dennoch entscheidet, beim Kind zu Hause zu bleiben, bis es etwa vier Jahre alt ist oder gar bis zum Schuleintritt oder zum Übertritt in eine höhere Schule, dann haben wir, sagt uns der Zeitgeist, eine männliche oder weibliche Glucke vor uns, die womöglich die Entwicklung ihres Kindes hemmt.
Wenn sich Eltern dafür entscheiden, nicht nur ein oder zwei Kinder zu haben, sondern gar die abschreckende Anzahl von drei zu überschreiten, spätestens dann wird über Mutterkreuz-Ambitionen gewitzelt. Freunde von uns haben fünf Kinder. Als ich die kleinste Tochter erstmals sah, sagte ich mehr zu mir selber als zu den Eltern: "Euch lädt sicher niemand mehr ein!" Der Vater antwortete lakonisch: "Schon lange nicht mehr!" So erweist es sich: Wer zu viel für sein Kind, seine Kinder und seine Familie tut, hat keinen guten Ruf.
Eine Familie mit fünf Kindern, also sieben Personen tatsächlich zu sich einzuladen, zumal wenn man als Gastgeber zu fünft ist, stellt tatsächlich eine gewisse logistische Herausforderung dar. Aber wir haben es gewagt, es gelang vortrefflich - ebenso wie der daraufhin fällige Gegenbesuch.
Der nun schon mehrfach erwähnte Zeitgeist beinhaltet auch eine sich zur Panik steigernde Zimperlichkeit gegenüber solchen Herausforderungen, die neben der Mühe ja auch etwas sehr Lustiges, etwas durch und durch Positives in sich bergen. Aber wir agieren die leicht irre Lust an der Überforderung heutzutage lieber beim Abenteuerurlaub in Alaska oder der Wüste aus . . .
Vorliegender Text ist ein Auszug aus Stefanie Holzers neu erschienenem Buch-Essay "Wer bitte passt auf meine Kinder auf" (Limbus Verlag, Innsbruck 2015, 136 Seiten, 10.- Euro), in welchem sich die Autorin kritisch zu heutigen Mentalitäten und Lebensformen äußert, die darauf abzielen, Kinder so früh wie möglich und am besten ganztägig in diversen Institutionen abzugeben, damit Eltern ihre Karrierechancen nicht aufs Spiel setzen.
Stefanie Holzer, geboren 1961 in Ostermiething (OÖ), lebt als Schriftstellerin in Innsbruck und ist ständige Glossistin im "extra" ("fauna & flora"). Zuletzt von ihr in Neuauflage als Taschenbuch erschienen: "Franz Ferdinand. Ein Katzenleben" (Limbus).