Verteidigung spricht von geradezu absurden Vorwürfen. | Politprozess gegen Putin-Kritiker. | Moskau. (dpa) Wenn am heutigen Dienstag in Moskau der zweite Prozess gegen Russlands prominentesten Häftling Michail Chodorkowski mit der Voranhörung beginnt, umfasst die Anklage 188 Bände und die Zeugenliste 96 Namen. Jedoch fürchten die Anwälte des früheren Öl-Milliardärs, dass die Verurteilung zu einer langen Gefängnisstrafe längst feststeht. Die Betrugsvorwürfe seien zwar aus ihrer Sicht verjährt, aber in Freiheit könnte der Kremlkritiker der Machtelite um Regierungschef Wladimir Putin gefährlich werden, begründen sie ihre Zweifel an einem fairen Verfahren. Viele im Westen hatten sich in der Vergangenheit für Chodorkowski eingesetzt. Das Engagement brachte dem Ex-Oligarchen keine Vorteile.
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Für Generalstaatsanwalt Juri Tschaika haben die aktuellen Vorwürfe gegen Chodorkowski und dessen ebenfalls in Haft sitzenden Geschäftspartner Platon Lebedew "ein für Russland einmaliges Ausmaß". Die Angeklagten sollen als Manager des mittlerweile zerschlagenen Ölkonzerns Yukos umgerechnet fast 20 Milliarden Euro unterschlagen und zudem etwa 17 Milliarden Euro "gewaschen" haben. 20 Jahre Gefängnis drohen nun den Häftlingen, die wegen Steuerhinterziehung bereits zu acht Jahren verurteilt worden waren. "Wären diese absurden Vorwürfe korrekt, hätten beide die Gesamteinnahmen 1997-2003 komplett unterschlagen", kritisiert die Verteidigung.
Damals wie heute seien die Prozesse vom Kreml gelenkt, sagen außer den Anwälten auch zahlreiche Beobachter. Die Machtelite befürchte, ohne einen neuen Prozess müsse Chodorkowski bald freigelassen werden. Der damalige Yukos-Chef habe mit der Unterstützung der Opposition ein ungeschriebenes Gesetz des Kremls gebrochen, dass Reiche in Russland unbehelligt bleiben, wenn sie unpolitisch sind, schreibt der Journalist Waleri Panjuschkin, der ein Buch über den Fall veröffentlichte.
Viele im In- und Ausland hofften nach der Wahl Medwedews vor einem Jahr auf einen Schub für Russlands Demokratisierung. Sein Vorgänger Putin hatte gar Hoffnungen auf eine vorzeitige Entlassung von Chodorkowski auf Bewährung nach dem Amtswechsel genährt. Doch ein solcher Antrag der Verteidigung wurde von der Justiz letztlich ebenso abgelehnt wie der Wunsch Chodorkowskis, nach Moskau verlegt zu werden. Er verbüßt seine Strafe in Tschita im Länderdreieck China, Russland, Mongolei. Zum jetzigen Prozess wurde er mehr als 6000 Kilometer weit in die Hauptstadt geflogen.
Mutter durfte ihren Sohn besuchen
Nach der Verlegung durfte Chodorkowskis Mutter Marina ihren Sohn nach Monaten ohne persönlichen Kontakt eine Stunde lang im Untersuchungsgefängnis "Matrosenruhe" durch eine Scheibe sprechen. "Er rechnet mit einem langen Prozess", sagt die 75-Jährige. "Ich werde jeden Tag im Gerichtssaal sitzen." Im Unterschied zum ersten Prozess 2005 soll die Verhandlung öffentlich sein. Vielleicht können diese Offenheit und der internationale Druck sich positiv auf ein Urteil für Chodorkowski auswirken, schließen Justizexperten nicht aus. Der 45-Jährige begrüßt die Öffentlichkeit mit den Worten, dann könne jeder hören, dass die Anklageschrift "von einem Amateur oder Fälscher stamme" und eine "schändliche Farce" sei.
"Sie werden mich schuldig sprechen"
Der unbequeme Ex-Oligarch sieht sich als Opfer von Machenschaften des Kremls. Dafür spricht auch, dass nach seiner Verhaftung das Yukos-Herzstück Juganskneftegas bei einer Versteigerung Putins damaligem Kanzleichef Igor Setschin zugesprochen wurde. Nach Einschätzung von Chodorkowskis Anwalt Wadim Kljuwgant würde "ohne politisches Interesse der Fall wie eine Seifenblase platzen". Nach seiner Freilassung "irgendwann" werde er sich nicht mehr in die Politik einmischen, sondern sich um seine Familie kümmern, kündigte Chodorkowski einmal an. Dies könnte aber lange dauern. "Ich bin überzeugt, dass sie mich schuldig sprechen."