Etwas fehlt jetzt, was sonst nie fehlt: Kritik und Widerspruch. Ist das gut oder schlecht?
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"Es gibt nur eine Priorität: Zu tun, was notwendig ist", erklärte am Mittwoch Finanzminister Gernot Blümel. Anschließend, so ergänzte Gesundheitsminister Rudolf Anschober, wird "das Leben in Österreich und Europa sich grundlegend ändern". Für Bundeskanzler Sebastian Kurz steht fest, dass "das Virus Krankheit, Leid und Tod für viele Menschen in unserem Land bedeuten" wird. Weshalb es, so Blümel, auf der Hand liege, dass nun eine "neue Zeitrechnung" begonnen hat.
Das sind große Worte, gesprochen als Kommentar zu einer Lage, die wir alle als Gesellschaft noch nie erlebt haben. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass etwas fehlt, was sonst nie fehlt: Kritik, eine Gegenmeinung, Widerspruch. Diese Trias betrachten wir eigentlich als Grundrecht, das selbst mit einem guten Schuss an Eigenwilligkeit zum Kern unseres Selbstverständnisses zählt. Und trotzdem wird ihr Fehlen in der öffentlichen Debatte aktuell nicht wirklich vermisst.
Wie kann das sein? Noch dazu, wo sich im Privaten sehr wohl eine Fundamentalkritik an den bisherigen Maßnahmen findet; aber die will nicht einmal die FPÖ, die ansonsten doch fast jede Gegenmeinung auf die politische Bühne hebt, aufgreifen.
Vermutlich wird diese Krise momentan als zu groß empfunden, zu existenziell, als dass sich die pragmatischen Gegendenker auf die Seite derjenigen begeben, die stets auch dagegen sind, sich das aber noch nicht so laut zu sagen trauen. Diese Lust am Gegenstandpunkt aus Prinzip, weil einfach immer einer oder eine dagegen sein sollte, ist aus der aktuellen öffentlichen Debatte verschwunden. Wenn es überhaupt Widerspruch zum Vorgehen der Regierung gibt, dann allenfalls, dass sie noch schneller und noch mehr von all dem tun sollte, was sie ohnehin bereits tut. Aber das ist natürlich kein richtiger Widerspruch, sondern in Wirklichkeit verstecktes Lob.
Ist das Fehlen von Kritik jetzt gut oder schlecht? Natürlich ist eine Welt ohne Widerspruch ärmer, schließlich profitieren stets alle Seiten von den Argumenten und Perspektiven der anderen; Stand- und Gegenstandpunkte ergeben erst gemeinsam ein größtmögliches Bild der Wirklichkeit. Dies jedoch nur, und das ist auch für die aktuelle Situation entscheidend, wenn wissenschaftliche Erkenntnis oder zumindest intellektuelle Redlichkeit die akzeptierte gemeinsame Grundlage für alle Beteiligten sind.
Beides kann die Regierung derzeit für sich in Anspruch nehmen - von daher ist auch das Fehlen von grundlegender Kritik vernünftig. Fehler werden trotzdem gemacht werden. Die Kritiker müssen sich also nur ein wenig gedulden. Ihre Zeit wird noch kommen.