Seit 25 Jahren ist Sterbehilfe in den Niederlanden gesetzlich geregelt. Längst ist sie gesellschaftlich akzeptiert.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Amsterdam. Ein halbes Jahr ist es her, da geriet die Sterbehilfe - beziehungsweise "Euthanasie", wie man in den Niederlanden in historisch bedingter Unempfindlichkeit sagt - so richtig in die Schlagzeilen: In Den Haag wurde gerade an einer neuen Koalition gefeilt, und das dickste Hindernis, das es aus dem Weg zu räumen galt, war ein Gesetzesentwurf, der allenthalben "Erfülltes Leben" genannt wurde. Der Plan der liberalen Partei Democraten66 (D66) sah vor, dass, wer subjektiv auf ein solches erfülltes Leben zurückblicken kann, sich auch davon verabschieden darf - unter ärztlicher Aufsicht, angelehnt an das 2002 verabschiedete "Euthanasiegesetz", das zwar das weltweit erste seiner Art war, aber bereits auf einer früheren Regelung aufbaute. So hatte das niederländische Parlament schon am 9. Februar 1993 beschlossen, dass Ärzten keine Strafverfolgung droht, wenn sie unter ganz bestimmten Bedingungen Sterbehilfe leisten.
Der Streit, der in Folge des D66-Gesetzesentwurfs entstanden ist, illustriert, wie sich die niederländische Gesellschaft seither in dieser Frage entwickelt haben. Einerseits ist da der weitreichende und mehrheitliche Konsens - Umfragen zu Folge stimmen drei Vierteln der Niederländer zu -, dass der Mensch unter bestimmten Umständen selbst über sein Lebensende verfügen kann und ärztliche Hilfe dabei einen gesetzlichen Rahmen benötigt. Ohne diesen Konsens vor allem in liberal-bürgerlichen Kreisen hätte D66 das Thema nicht derart prominent im Wahlprogramm platziert.
Auf der anderen Seite gibt es allerdings Bevölkerungsgruppen, die in der Regel aus ethisch-konfessioneller Überzeugung von diesem Konsens ausgenommen sind. Im Haager Koalitionspoker wurden sie durch die ChristenUnie (CU) repräsentiert, eine kleine, sozial-calvinistische Partei, für deren Basis das Leben prinzipiell nicht so erfüllt sein kann, dass der Mensch selbst einen Schlusspunkt dahinter setzt. Also landete das entsprechende Vorhaben zunächst auf dem Abstellgleis, von dem es bei einer günstigeren politischen Konstellation aber zweifellos wieder heruntergeholt werden wird.
Das Problem der Definition
Die jüngste Auseinandersetzung hat damit einen hohen Symbolwert. Denn egal, wie man auch auf die Niederlande als Pionierland der Sterbehilfe blickt, man findet hier Bestätigung. Analytisch fallen dabei vor allem zwei Befunde ins Auge: zum einen die Tatsache, dass das Feld der Sterbehilfe seit ihrer Legalisierung nicht statisch ist, sondern beständig neu vermessen wird. Zum anderen die Notwendigkeit einer Nuancierung: Denn auch in den vermeintlich ultraliberalen Niederlanden gibt es offenbar nicht wenige Gegner dieser Praxis.
Eine deutliche Sprache sprechen zunächst die Zahlen der niederländischen Sterbehilfe-Kontrollkommissionen. 2002 machten 1882 Personen von der Möglichkeit Gebrauch, ihr "unerträgliches und aussichtsloses Leiden" vorzeitig zu beenden. Dies geschieht übrigens entsprechend einem detailliert geregelten Protokoll, wobei zwei Mediziner unabhängig voneinander prüfen müssen, ob der Antrag den gesetzlichen Kriterien entspricht. 2016 hatte sich diese Zahl auf 6091 erhöht. Der Anteil an den jährlichen Sterbefällen stieg dadurch von 1,32 auf 4,09 Prozent.
Umstritten ist aber nach wie vor, wie genau "unerträgliches und aussichtsloses Leiden" definiert wird. Dass dies subjektiv unterschiedlich interpretiert werden kann, ist offensichtlich. Dass zu etwa 80 Prozent terminale Krebs-Patienten Sterbehilfe in Anspruch nehmen, ist weithin akzeptiert. Anders sieht es mit psychischen Krankheiten oder mit Demenz aus. Haben Patienten nicht auch einen immensen Leidensdruck? Was ist mit jungen Patienten zwischen 12 und 16 Jahren, die eine Zustimmung der Eltern brauchen?
Auf all diesen Feldern spielt sich in den letzten Jahren die gleiche Debatte ab. Sterbehilfe-Gegner befürchten, dass die "Euthanasie"-Schwelle immer weiter sinkt. Zuletzt sorgte der Tod einer 29-jährigen Borderline-Patientin für Schlagzeilen - nicht zuletzt dank ausführlicher Berichterstattung einer Regionalzeitung.
Die Gefahr des Ausuferns
Besonders umstritten ist das Thema bei Demenzkranken. Als 2008 im Nachbarland Belgien der an Alzheimer erkrankte Schriftsteller Hugo Claus Sterbehilfe empfing, führte das auch in den Niederlanden zu Diskussionen. Wie relevant die Frage nach wie vor ist, zeigt zuletzt das Beispiel de Medizinethikerin Berna van Baarsen: Mit 1. Jänner gab sie ihren Sitz in einer der regionalen Prüfungskommissionen auf. Dem Fachblatt "Medisch Contact" sagte van Baarsen, sie könne die immer breitere Interpretation "unerträglichen Leidens" nicht mittragen. Sorgen macht ihr vor allem die Demenz-spezifische Grauzone, in der Patienten den eigenen Willen nicht mehr zweifelsfrei deutlich machen können. Haben diese zuvor in "klarem" geistigen Zustand eine entsprechende Erklärung unterzeichnet, können sie dennoch Sterbehilfe empfangen.
Das nun verschobene Gesetz zum "erfüllten Leben" steht in der Nachfolge all jener Debatten. Was sie vereint, ist die grundsätzliche Besorgnis, die Sterbehilfe-Kriterien werden ausgehöhlt. Befürworter betonen dagegen, die gesetzlich festgelegten Kriterien würden streng kontrolliert.