Zum Hauptinhalt springen

Legal, illegal, scheißegal

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Die Diskrepanz zwischen den Corona-Gesetzen und dem gelebten Alltag wird immer größer - das kann so nicht funktionieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Seit Montag null Uhr sind wir bekanntlich von Gesetzes wegen verpflichtet, im öffentlichen Raum 200 Zentimeter Abstand voneinander zu halten, also einen halben Meter mehr, als bis Sonntag Mitternacht vorgeschrieben war. Um zu glauben, dass sich außer ein paar hartgesottenen Misanthropen irgendjemand um diese Ausweitung der sozialen Sperrzone scheren wird, bedarf es freilich einer eher ausgeprägten Fähigkeit, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen. Wer beobachtet, wie dicht gedrängt die Menschen auch seit Montag bei halbwegs schönem Wetter etwa in Fußgängerzonen flanieren, spontane Open-Air-Bars improvisieren oder einfach in Gruppen herumstehen, ohne zwei, eineinhalb oder auch nur einen Meter Abstand, ohne dass die Polizei nennenswert intervenieren würde, dem dämmert: Die Regeln sind eine Sache, die Realität ist eine andere.

Das gilt nicht nur für die 200-Zentimeter-Regel, sondern auch für viele andere Anordnungen der Obrigkeit zur Bekämpfung der Pandemie. Das Beherbergungsverbot für Zimmervermieter etwa scheint vor allem im Westen des Landes zwischen Weihnachten und Mitte Jänner eher als unverbindliche Empfehlung verstanden worden zu sein; zu beobachten war eine Art blühender Untergrundurlaub nach dem Motto: Bald wird jeder jemanden kennen, der plötzlich entdeckten entfernten Verwandten Herberge bietet. Und auch die etwas überkomplexen Regeln, wer wen unter welchen Bedingungen besuchen darf, dürfte ein substanzieller Teil der Bevölkerung nicht einmal ignoriert haben - quer durch alle sozialen Schichten. Das belegen auch die Bewegungsdaten der Mobilfunkbetreiber. "Die Leute sind von Lockdown zu Lockdown mehr unterwegs", so der Komplexitätsforscher Peter Klimek. Während die Mobilität im ersten Lockdown um etwa 70 Prozent zurückging, waren es beim zweiten nur noch weniger als 50 Prozent, beim aktuellen gerade einmal 27 Prozent, Tendenz weiter sinkend. Salopp gesagt: Der Lockdown wirkt derzeit kaum, weil es kaum einer ist.

Das liegt natürlich weitgehend daran, dass die Durchsetzung der Regeln weitgehend sehr österreichisch gehandhabt wird, um es einmal sehr freundlich zu formulieren. Man mag das sympathisch finden, doch das Ergebnis ist, dass es zwischen dem Regierungsplaneten und dem Bevölkerungsplaneten immer weniger gegenseitiges Verständnis gibt. Auf dem Regierungsplaneten werden Tag und Nacht neue Vorschriften ersonnen, die man auf dem Bevölkerungsplaneten immer souveräner ignoriert, so weit das geht, ohne aufzufallen. Erinnert sich noch irgendjemand an Innenminister Karl Nehammers "Es gibt nur fünf Gründe, die Wohnung zu verlassen"?

Für einen Rechtsstaat wird es freilich irgendwann ein Problem, wenn die Bevölkerung dazu übergeht, selbst zu entscheiden, was gilt und was ignoriert werden kann. Denn dann steht irgendwann als Depp da, wer sich noch penibel an die Regeln hält. Und dann verliert die Regierung endgültig die Kontrolle über das Geschehen - am Höhepunkt einer Pandemie keine so gute Idee.