In seinem Habitus war Karl Marx, dessen Todestag sich am 14. März zum 130. Mal jährt, ein bürgerlicher Familienmensch. Was bleibt, 165 Jahre nach dem Erscheinen des "Kommunistischen Manifests", von seinen revolutionären Theorien übrig?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Folgt man den Ausführungen seines fanatischen Anhängers und die Marx’schen Lehren unkritisch verklärenden Schülers Wladimir I. Lenin, so verschied der streitbare Theoretiker am 14. März 1883 "friedlich in seinem Lehnstuhl". Dieses heutzutage längst aus dem Gebrauch gekommene, durchaus unrevolutionäre Versatzstück des bourgeoisen Gründerzeit-Mobiliars stand im fünfköpfigen Marx-Haushalt in London.
Der 1818 im rhein-preußischen Trier geborene Karl Marx war akademisch fundierter Publizist, Emigrant und Exilant, da er auf Grund seiner revolutionären Schriften zunächst aus Preußen Richtung Belgien umzog, dann in den 1840er Jahren in Frankreich Zuflucht nahm, wo er auch Friedrich Engels (1844) kennen lernte und von wo er dann 1848 als unerwünschter Ausländer abgeschoben wurde. Rund dreieinhalb Jahrzehnte lebte die Familie Marx in London, Gattin Jenny (geb. von Westphalen) gebar dem kommunistischen Theoretiker, der noch im kantisch-humboldtisch dominierten, gerade erst von Hegel und Feuerbach geistig befruchteten Preußen nacheinander Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie inskribiert hatte, drei Töchter (Eleanor, Jenny und Laura).
Der Verlust seiner um vier Jahre älteren, adeligen Gattin im Jahr 1881 traf den müde gewordenen Analytiker des Kapitals schwer. Der Revolutionär galt als kultivierter Familienmensch und treuer Freund seiner Mitstreiter, vor allem aber Engels’. Global bedeutsame Kampfrufe, welche die "Proletarier aller Länder" vereinigen sollten, entstanden somit im biederen Wohn- und Arbeitszimmer eines durchaus bourgeois lebenden, umfassend gebildeten Gelehrten, der aus rein politischen Gründen den englischen Lehnstuhl dem deutschen Lehrstuhl vorziehen musste.
Aber nicht nur der Lebensstil der Familie Marx war - abgesehen von den drei markanten, fluchtartigen Umzügen quer durch den westlichen Kontinent - bürgerlich. Dasselbe galt auch für das soziale Umfeld, dem der "Materialist" antihegelianischer Prägung entstammte. Marx entspross einer gut situierten, deutsch-jüdischen Familie, die Vorfahren beider Elternteile waren Rabbiner - und dieses Erbe mag sein großes dialektisch-analytisches Talent mitbestimmt haben. Sein Vater Heinrich, ein assimilierter und erfolgreicher Rechtsanwalt, entschied sich schon im Jahr 1820, dem Glauben der Väter abzuschwören, und er ließ sich und die gesamte Familie, somit auch den zweijährigen Karl, nach evangelischem Ritus taufen.
Somit wuchs der begabte Sohn in einem bürgerlichen, rheinisch-deutschen Milieu auf, das vom politischen System her aufgeklärt, aber zackig-preußisch geprägt war, da die Hohenzollern die Rhein-Provinz nach der Neuordnung Mitteleuropas durch den Wiener Kongress in der post-napoleonischen Ära beherrschten.
Nichts deutete zunächst - sieht man von harmloser Feuerbach-Schwärmerei ab - darauf hin, dass im Westen Mitteldeutschlands der Urheber jener Bewegung heranwuchs, die ein Jahrhundert später eine kontinentale Grenzen überschreitende Revolution anzetteln und sodann die globale Herrschaft und Hegemonie über die vereinigten "Proletarier aller Länder" anstreben sollte.
Man würde es auch sonst nicht für möglich halten, dass der Sohn eines rheinischen Rechtsanwalts und sein nur wenig jüngerer Freund, Friedrich Engels, der Sohn eines deutschen Industriellen mit Firmen auf dem Kontinent und auf den britischen Inseln, jene kunstvoll-kompliziert verfassten, mitunter polemisch-literarischen und zum Teil mühsam zu entziffernden Werke schufen, die dem Proletariat nicht nur zur Bewältigung seines Status als benachteiligter Klasse, sondern sogar zur "Diktatur" und zur Überwindung seines "sich selbst bedingenden Gegensatzes", des Privateigentums, verhelfen sollten.
Ein publizistisches Brüderpaar, das verblüffend einfache Thesen, aber schwer auszusprechende Termini schuf, wie die Zweiteilung der Gesellschaft in Proletariat und Bourgeoisie. Als zusätzliche Ironie der Geschichte mag gelten, dass der Marxismus, wie ihn Engels und Lenin, dann auch Bakunin, Trotzki und Mao weiter fortspannen, weder in deutschen noch in englischen, aber auch nicht in den französischen Indus-triestädten politisch zum Durchbruch gelangte, sondern im agrarisch-feudal strukturierten, zaristisch-orthodoxen Russland.
"Lenin-Putsch"
Marx sprach zwar nach den (stets zweifelhaften) Angaben Lenins Russisch, aber seine geistig bestimmenden Sprachen und sein kulturelles Umfeld waren Deutsch, Englisch und Französisch. Ohne dies selbst noch zu erleben, wurde Marx, der die Revolution in Manchester, Toulouse oder Berlin verortet hätte, zum Urheber einer bolschewistisch orientierten Bewegung, die in Kasan, St. Petersburg und Moskau mit verheerender Wirkung auf Kirche und feudal-zaristisches Regime operierte. Deutsche Politikwissenschafter sprechen der 1917er-Revolution sogar den marxistischen Charakter ab, sondern bezeichnen diese schlicht als "Lenin-Putsch".
Heute hätte sich Marx vor Ort überzeugen müssen, dass abgesehen von ein paar Andenken, wie den breiten Uniformkappen der Roten Armee und einigen skurrilen Termini, wieder alles beim Alten ist. Selbst im Osten Deutschlands retteten sich nur Jugendweihe, FKK-Reminiszenz und Trabi-Nostalgie als wahrlich unkommunistische Symbole eines angeblich marxistisch ausgerichteten Systems in die Gegenwart, während die lesenswerten Schriften Lenins, Marx’ und Engels’, die in ehemaligen "volkseigenen Betrieben" und Kombinaten hergestellt wurden, nur mehr in Restexemplaren billig verscherbelt werden.
Aber wahrscheinlich hätte sich auch der chinesische, lyrisch dichtende Revolutionär und Bauernsohn Mao Zedong sehr gewundert, könnte er die heutige, durchwegs elitär-kapitalistisch ausgerichtete, westlich frisierte, deutsch motorisierte und in feinstes Pariser Tuch gekleidete Funktionärsschicht seiner Heimat kennen lernen, deren Vorfahren einst aufmerksam und unterwürfig die Gespräche über die neue kommunistische Kultur in Yan’an verfolgt hatten. Die "Reden der Aussprache in Yan’an über Literatur und Kunst", eine wichtige ideologische Schrift, erschienen im Druck vor siebzig Jahren, also im Kriegsjahr 1943, fungierte nach dem Sieg über Japan und danach über die Kuomintang als die unbestrittene und unanfechtbare Leitlinie der maoistischen Kulturpolitik.
Mao hatte besonders die "kleinbürgerlichen" Autoren im Visier, welche es wagten, durch pessimistische Prognosen und böswillige Kritik die Leistungen der Kommunisten herabzuwürdigen. Noch ehe die Kulturrevolution vollbracht war, schien klar, welche Vorstellungen der "Große Vorsitzende" von den künftigen Literaten hatte: sie sollten allesamt "Rädchen und Schräubchen" in der "revolutionären Maschinerie" sein, nicht mehr. Alles andere stand ohnehin in der Mao-Bibel, die sich auch zu stilistischerer Inspiration und als allwirksamer und -heilsamer Kanon eignete.
Lob für Feudalismus
Anders als in seinen Schriften, welche das Bürgertum als zinsgierige "Bourgeoisie" abkanzelten, war der private Marx nicht nur selbst ein - allerdings materiell höchst förderungsbedürftiger - Geistesmensch und bestenfalls ein Schreibtischrevolutionär, der sich der idyllischen Lebensform der Adeligen gegenüber aufgeschlossen zeigte. Immer wieder tauchen in den marxistischen Schriften Andeutungen auf, welche die feudale Lebensform des damals politisch überall noch bestimmenden Standes mit ihren Vergnügungen wie Jagd, Gesellschaften und Hobby-Landwirtschaft preisen und ihr eine verlorengegangene "familiäre Geborgenheit" attestieren, die erst durch die Industrialisierung und die bürgerlichen Revolutionen ein jähes Ende fand.
Es ist dies einer der vielen Widersprüche in der kommunistischen Theorie, dass sie nicht den feudal-agrarischen Grundherrn als Ausbeuter ansieht, sondern den "Bourgeois", welcher von der industriell genutzten Arbeitskraft anderer lebt. Dabei verkennt die marxistische Theorie, dass die Gesellschaft nicht aus lediglich zwei "Klassen" besteht, es sei denn, man zählte sämtliche Kleinbürger und Bauern auch zum Proletariat, wo sich weder die einen noch die anderen heimisch fühlen dürften.
Erst der maoistischen Theorie war es vorbehalten, die "proletarische" Revolution vornehmlich in den ländlichen Raum zu tragen, wogegen Marx und Engels vom Industrieproletariat ausgingen und daher den Fokus vor allem auf städtische Strukturen nach dem (mittelenglischen) Muster Birmingham, Manchester oder Newcastle richteten.
Marx revidierte immer wieder seine Prognosen, etwa als sich zeigte, dass Louis Napoléon, dessen Regime er ein ganzes Buch widmete, trotz "proletarischer" Unterstützung weder selbst wirtschaftlich Schiffbruch erlitt noch die ersehnte Revolution eintrat. Das sei Ergebnis der Tatsache, dass das französische Proletariat eben noch nicht reif genug sei, um die schon drei Jahre zuvor publizierte Vision zu erfüllen, "sich selbst und seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum aufzuheben". Indirekt lebte Marx allerdings selbst von den Zinsen, die sich aus dem Eigentum an Produktionsmitteln ergaben, diesem aus kommunistischer Sicht verachtenswerten "Mehrwert", weil er nach zwei Landesverweisungen (zuletzt aus Frankreich 1848) als mittelloser Exilant auf Unterstützung angewiesen war, die ihm der Industriellensohn und Firmenteilhaber Engels großzügig gewährte.
Das Verhältnis der beiden maßgeblichen Autoren der marxistisch-kommunistischen Theorie, die sich im monumentalen Hauptwerk "Das Kapital" abwechselten, war von einer tiefen Freundschaft und einer ebenso produktiven wie einfühlsamen Zusammenarbeit geprägt. So stammt der erste Band, "Der Productionsprocess des Kapitals", aus 1867 zur Gänze aus der Marx’schen Feder, während der zweite Band, "Der Circulationsprocess des Kapitals", zwischen 1870 und 1877 von Engels bearbeitet wurde, der dann den "Gesamtprocess des Kapitals" (Band 3) bis ein Jahr vor seinem eigenen Tod (1894 bzw. 1895) aus dem Nachlass seines Mentors schöpfend allein herausgab.
Die Editionsgeschichte der fragmentarisch gebliebenen "Theorien über den Mehrwert", dem vierten Band des "Kapital", reicht bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Begonnen hatten die beiden ihre erfolgreiche Co-Autorschaft, die vier Jahrzehnte andauern sollte, schon 1845 mit der heute nur wenig bekannten Polemik gegen die "kritischen Kritiker" Bruno Bauer, Max Stirner, Arnold Ruge; ein philosophisch-sozialwissenschaftliches Werk, das in Bauers "Allgemeiner Literatur-Zeitung" erschienen war. Die drei Hegelianer hatten sich in einer Mischung aus theoretischer Abhandlung und literarisch-sozialistischer Utopie nach einer historisch durchaus klaren Analyse für ein abwartendes Beobachten der weiteren Entwicklung, keinesfalls aber für aktives, revolutionäres Handeln ausgesprochen.
Martialische Termini
Marx und Engels bekämpften in ihrer bereits drei Jahre vor der (bürgerlichen) Februar-Revolution erschienenen Replik, die den zwar witzigen, aber nebulosen Titel "Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik" (1845) trug, vor allem die Ansicht, dass sich die Ziele des Sozialismus auf friedlichem Weg erreichen ließen, indem das "staatliche" Prinzip nach und nach über das "gesellschaftliche" gestellt würde. Damit war der letztlich unversöhnliche Gegensatz zwischen demokratischen Sozialisten und revolutionären Kommunisten bereits vorgezeichnet, der die beiden wesensverwandten Bewegungen längerfristig trennen sollte.
Zum Glück, wie man sagen muss, denn wie das Beispiel der "Austromarxisten" in den Zwanzigerjahren zeigt, bescherte die Übernahme der martialischen marxistischen Terminologie des Klassenkampfes und der proletarischen Revolution den Sozialdemokraten in der Ersten Republik einen nicht wieder gutzumachenden Vertrauensschaden. Ihre Gegner hatten leichtes Spiel, eine Partei zu diskreditieren, die auf Plakaten und bei Aufmärschen die "Republik" als Zwischenziel, den "Sozialismus" aber als eigentliche Idealform ansah, und deren Ausdrücke frappierend jenen Parolen ähnelten, welche die bolschewistischen Mörderbanden eines Bela Kun und Samuely im benachbarten Ungarn 1919 zum Schrecken der Bevölkerung als Vorwand für ihre Raubzüge genommen hatten.
In ihrem ersten gemeinsamen Werk stellten Marx und Engels ihre politischen Ziele erstmals unverblümt heraus, die sie dann im "Kommunistischen Manifest" 1848 noch klarer extrapolierten: Überwindung des Privateigentums, staatliche Übernahme aller Produktionsmittel, Abschaffung des Erbrechts, Diktatur des Proletariats. Da dies alles auf revolutionärem Weg geschehen sollte, waren sich die noch an den Hebeln der Macht befindlichen "Bourgeois" fortan nicht mehr ihrer Existenz sicher.
Kein Wunder, dass sich die Bourgeoisie wehrte: Es sollte zwar noch einige Jahrzehnte bis zur parlamentarischen Verankerung sozialistischer Parteien und fast siebzig Jahre dauern, bis in der bolschewistischen, putschartigen Revolution 1917 der Kopf des russischen Zaren fiel, aber die theoretischen Fundamente waren bereits vor 165 Jahren erstmals auf Deutsch umrissen worden.
Die Autoren trugen nicht nur wichtige Erkenntnisse zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der ökonomischen und politischen Mechanismen des Kapitalismus industrieller Prägung bei, sondern lieferten wahrscheinlich die wichtigste und wirkmächtigste analytische sozialwissenschaftliche Theorie des 19. Jahrhunderts. In W. I. Lenin fanden sie einen rhetorisch und literarisch würdigen Nachfolger, der allerdings nach neueren Erkenntnissen schon bald die grausame Gewaltherrschaft stalinistischer Prägung (Stalin war auch lange sein Wunschnachfolger im ZK der KPdSU) nicht nur vorbereiten, sondern maßgeblich beschreiten sollte.
Nützliche Theorie
Fairerweise muss man den analytischen und den angewandten Kommunismus voneinander trennen. Ersterer kann sogar wichtige Erkenntnisse liefern, um den gefährlichsten Feinden und Zerstörern der Demokratie und des westlich-freiheitlichen Systems zu begegnen.
Gerade in der heutigen Zeit, in der eine Handvoll "superreicher" Magnaten und Oligarchen allerorten das ökonomische Heft in der Hand halten und andere vermöge ihres Finanz-Kapitals beherrschen, kann die marxistische Theorie von Nutzen sein. Dass aber angewandter Kommunismus stets in Autokratie, Unfreiheit und Massenmord mündete, dürfte kein bloßer "Kollateral-Schaden", sondern ein tief in der Marx’schen Theorie verwurzelter Systemfehler sein.
Wer Revolution und Diktatur predigt, darf nicht auf eine friedfertige Entwicklung im Interesse der ehemals Ärmsten hoffen. In ihrer Ablehnung einer parlamentarisch-demokratischen Entwicklung, ihrem schroffen Gegensatz zu allen utopistisch-sozialistischen, christlich geprägten oder sonstigen ideell ausgerichteten Bewegungen haben die Kommunisten marxistischer Prägung die Saat der Gewalt selbst ausgestreut.
Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.