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Leichen im Fluss

Von WZ-Korrespondentin Karin Rogalska

Politik
Die Hansestadt Demmin heute.
© Hans Blossey/imagebroker/corbis

Der Einmarsch der sowjetischen Truppen mündete in Demmin in den angeblich größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte.


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Demmin. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Die bittere Wahrheit dieses Sprichworts erlebten die Einwohner im vorpommerschen Demmin am 30. April 1945. Morgens noch zählten sie sich zu den Glücklicheren im mittlerweile fast vollständig in Schutt und Asche liegenden Deutschen Reich. Doch schon in den frühen Abendstunden setzte eine Welle von Selbstmorden ein. Innerhalb von fünf Tagen nahmen sich zwischen 900 und 4000 Menschen das Leben. Historiker werten das als größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte.

Ein heiterer Frühlingstag ist der 30. April 1945. Jeder in Demmin weiß, dass die sowjetischen Truppen nicht mehr weit entfernt sind. Jeder hat schon von Gräueltaten an Frauen gehört, die Soldaten in die Hände fielen. Frontheimkehrer haben im Vorjahr von den Verbrechen der Deutschen im Osten zu berichten begonnen. Und Flüchtlinge wollen immer nur eines: fort von den Russen.

Trotzdem scheint das alles weit weg. Auf Demmin ist in sechs Jahren keine einzige Bombe gefallen, in der Stadt gab es nicht einen kriegerischen Schusswechsel, heimatlose Menschen aus dem Osten, wenngleich inzwischen zahlreich, sind noch keine Rivalen im Kampf um Lebensmittel und Wohnraum.

Wegen der Flüchtlinge ist es voller als sonst in Demmin. Doch an sich scheint alles friedlich, so friedlich, dass jeder von einer so kampf- wie reibungslosen Übergabe Demmins an die sowjetischen Soldaten ausgeht. Rein vorsichtshalber werden die drei Brücken gesprengt, die von Demmin weiter westlich führten. Spätmittags verzieht sich der letzte Parteibonze, die Demminer schicken sich an, weiße Tücher aus ihren Fenstern zu hängen.

Doch dann kommt alles ganz anders. In rechtslastigen Kreisen hält sich bis heute die Mär eines schicksalhaften zeitlichen Zusammenfalls des Selbstmords Adolf Hitlers und dem Einrücken der sowjetischen Truppen in Demmin. "Der Führer" nimmt sich gegen 15.30 Uhr das Leben, etwa zeitgleich werden die ersten sowjetischen Soldaten in der Hansestadt gesichtet. Kurze Zeit später kursieren Gerüchte über Vergewaltigungen und erste Selbstmorde. Am 1. Mai 1945 beginnen die Soldaten mit der systematischen Einäscherung der Altstadt, erst vier Tage später erlischt das letzte Feuer.

Wohl ein Drittel wählte Freitod

Unterdessen gehen ganze Familien in den Tod. Einige Privilegierte scheiden mit Hilfe von Zyankali, oft noch das Geschenk eines Parteiangehörigen, binnen Sekunden aus dem Leben. Erhängen scheidet angesichts der Brände in vielen Fällen mangels Balken oder Dachböden aus, die meisten stürzen sich in die beiden Flüsse Peene und Tollense. Noch Wochen später künden dort Leichen von dem Inferno.

Einerseits gibt es keine historischen Belege dafür, dass an der Demminer Bevölkerung ein Exempel statuiert werden sollte. Andererseits lassen sich nur psychologisch motivierte Vermutungen anstellen, warum ein geschätztes Drittel der Einwohner plötzlich nur noch sterben wollte und dabei die eigenen Kinder nicht verschonte.

Die sowjetischen Soldaten wurden auf ihrem Weg in die Stadt zweimal mit Schüssen angegriffen. Das habe sie am Friedenswillen der Deutschen zweifeln lassen, glaubt der Historiker Florian Huber, der den Massenselbstmord von Demmin erstmals umfassend untersucht hat. Viele von ihnen hätten jahrelange Not und Entbehrung hinter sich gehabt, sodass die vermeintliche Idylle in Demmin in ihnen nichts als blanke Wut ausgelöst habe.

Die Demminer wiederum hätten sich nach der letztlich verhängnisvollen Sprengung der drei Brücken in einer Falle gewähnt, aus der es kein Entkommen mehr gab. Viele hätten den Bruch zwischen den Jahren scheinbarer Verschonung vom Krieg und dem Wüten der Soldaten nicht verkraftet.

Schwer für die weitere Entwicklung des Städtchens, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bedeutungslosigkeit versank, wog aus Hubers Sicht, dass die Demminer jahrzehntelang nicht über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen konnten. Dies sei erst seit der Wende von 1989 möglich. Doch schon damals hätten viele Zeitzeugen nicht mehr gelebt. Umso schwieriger sei es, aus der Geschichte zu lernen.