Wenn man sich die Frage stellt, welchen Beitrag der europäische Norden während der letzten Jahrzehnte zur Entwicklung unseres Kontinents geleistet hat, dann nimmt der "Wohlfahrtsstaat" dabei | einen bedeutenden Platz ein. Nicht nur Bruno Kreisky hat immer wieder das "Schwedische Modell" als Vorbild hingestellt. Alva Myrdal zeigte in ihrem berühmten "Report" auf, wie es auf demokratischen | Wege möglich wäre, die Gesellschaft zu verändern. Die Förderung der persönlichen Wohlfahrt der Bürger wurde in Westeuropa die Legitimation der Politik schlechthin.
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Solidarität, basierend auf Nachbarschaftshilfe, ist im finnischen Denken tief verwurzelt. Seit dem Mittelalter gab es die gegenseitige Hilfe der Dorfgemeinschaft, "Talkoo" genannt: Es war
selbstverständlich, gegenseitige Unterstützung dort zu leisten, wo es notwendig war.
So sehr nun der Wohlfahrtsstaat eine für den Norden charakteristische Einrichtung ist, und trotz der Krisen der letzten Jahre weiter funktioniert, so muß auch eines festgestellt werden: Das Prinzip
der Solidarität ist offensichtlich tief verwurzelt, die Menschen sind aber auch stark von einem Leistungsdenken geprägt. Erst dieses Leistungsdenken hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, das jene
Güter vorhanden waren, die verteilt werden konnten.
Die "protestantische Ethik" (Max Weber), wonach es einen Zusammenhang zwischen dem Glauben, dem Leistungsdenken und einer rationalen Wirtschaftsgesinnung gibt, ist in den Ländern des Nordens, die die
Reformation schon 1527 übernahmen, fest verankert. Gottgefällig handelt demnach der, der es durch Arbeit und Leistung zu Wohlstand bringt.
Die großen Leistungen, die in den nordischen Ländern im Bereich der Kultur, des Sports, in der Wissenschaft, Forschung und Hochtechnologie, aber gerade auch in der Wirtschaft stets erbracht wurden,
sind ein Ausdruck dieser Gesinnung.
Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie umfassend die staatlichen Sozialleistungen in Finnland sind, wie die Einkommen verteilt werden, aber auch, welche Anstrengungen unternommen werden, um
international wettbewerbsfähig zu sein.
Umfassende Vorsorge
Die 5,1 Millionen Finnen erzeugten 1995 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 125 Milliarden US-$. 60 Prozent davon wurden über den Staat ausgegeben bzw. verteilt. Für die Erziehung wurden 6 Prozent
des BIP ausgegeben; für die Gesundheit 4,7 Prozent; für die soziale Wohlfahrt 3,4 Prozent und für Wohnungshilfe 0,5 Prozent.
Alleine die Ausgaben der finnischen Sozialversicherungsanstalt (KELA) betrugen 1996 für Pensionen (1,1 Millionen Bezieher), Krankenversicherung (3,6 Millionen Bezieher), Arbeitslose (207.000
Bezieher), Mutterschutz (58.000 Bezieher), Kinderbeihilfe (1,1 Millionen Bezieher) und Rehabilitation (74.000 Bezieher) 52,8 Milliarden Fmk.
Da die KELA aber nur für Grundleistungen aufkommt, sind die tatsächlichen Ausgaben in den einzelnen Bereichen wesentlich höher: So betragen alleine die Gesamtausgaben für die Pensionen 78 Milliarden
Fmk, jene für die öffentliche Gesundheitsfürsorge 31 Milliarden Fmk und die monatlichen Aufwendungen für die Arbeitslosen 1,6 Milliarden Fmk.
Trotz verschiedener Kürzungen der letzten Jahre ist Finnland auch heute ein funktionierender Wohlfahrtsstaat. Auf 1.000 Einwohner kommen 367 Pkw (in Österreich 418); 544 Telefone (in Ö: 451); 505
Fernsehapparate (in Ö: 480); 2,7 Ärzte (in Ö: 2,4). Die Kindersterblichkeit beträgt bei 1.000 Lebendgeburten 4,6 (in Ö: 6,3).
Die Kosten für dieses Wohlfahrtssystem sind natürlich entsprechend hoch. So beträgt die Abgabenquote in Finnland 48,8 Prozent des BIP (in Ö: 45,7 Prozent). Die Durchschnittsfamilie zahlt in Finnland
34,6 Prozent Lohnsteuer, in Österreich 23,4 Prozent. Schon bei Durchschnittseinkommen liegt in Finnland der Grenzsteuersatz bei 49,8 Prozent, in Österreich bei 40,8 Prozent.
Entsprechend hat die OECD auch in einer Untersuchung vom Februar 1995 vorgeschlagen, Pensionen und Arbeitslosenunterstützung zu kürzen sowie das Pensionsalter (gesetzlich zur Zeit für Männer und
Frauen 65 Jahre, tatsächlich 59 Jahre) zu erhöhen.
Tatsächlich kam es auch, sowohl bei den Unterstützungen für die Arbeitslosen als auch bei den Pensionsregelungen, zu Änderungen. Aber insgesamt sind die Finnen mit ihrem System offensichtlich
zufrieden: Bei einer entsprechenden Befragung antworteten 39 Prozent, dieses Jahr würde besser als das vergangene, in Österreich waren nur 13 Prozent dieser Meinung, in den USA 51 Prozent.
Wenn man also einerseits feststellen kann, daß jeder Bürger in den Wechselfällen des Lebens von der öffentlichen Hand Schutz erhält, daß es in den Städten keine Slums gibt und daß man bemüht ist,
niemanden auszugrenzen, dann erhebt sich andererseits die Frage, wie reich man in einem solchen Lande werden kann und ob sich Leistung bezahlt macht.
Was die Spitzenvermögen betrifft, so ist es sehr leicht, diese festzustellen. Sie werden jährlich in den Medien veröffentlicht. Die Liste wird vom Inhaber eines großen Medienimperiums, Aatos Erkko,
angeführt, der sein Vermögen von 371,8 Millionen Fmk im Jahre 1995 auf 541,3 Millionen Fmk im folgenden Jahr erhöhen konnte. Seine Schwester Patricia Seppälä folgt mit einem Vermögen von 472,1
Millionen Fmk, im Jahr zuvor waren es noch 359,8 Millionen Fmk.
Was die Vermögen der großen Familien betrifft, so wird das von Robert Ehrnrooth (Papierindustrie) mit 115,5 Millionen Fmk beziffert, jenes von Erkki Etola (Plastikindustrie) mit 107,8 Millionen Fmk
und das von Peter Fazer (Schokolade) mit 59,2 Millionen Fmk.
Insgesamt gibt es 69 Personen, deren Vermögen mehr als 20 Millionen Fmk wert ist, darunter bekannte Namen wie Hartwall, Serlachius, Ahlström, Eerikäinen oder Laakkonen.
Wenn diese Vermögen auch nicht internationale Spitzengrößen erreichen, so sieht man doch, daß die Anschaffung von Reichtum und dessen Vergrößerung unter den gegebenen Bedingungen möglich ist. Richtig
ist aber auch, daß in Finnland die Gleichheit im internationalen Vergleich am ausgeprägtesten ist, noch vor Schweden und Norwegen. So beträgt der Gini-Koeffizient, der das Verhältnis der größten zu
den kleinsten Einkommen mißt, für Finnland 22, für die Schweiz 33 und für die USA 35.
Es ist offensichtlich der Mittelstand, der sehr viel für die Erhaltung des Sozialsystems bezahlt, der jene steuerlichen Leistungen erbringt, die eine umfassende Fürsorge der öffentlichen Hand erst
ermöglichen. Das Durchschnittseinkommen beträgt für Männer monatlich 11.889 Fmk und für Frauen 9.731 Fmk. Bei den Stundenlöhnen gibt es nicht unerhebliche Unterschiede: In der Papierindustrie bekommt
man 64,5 Fmk die Stunde, in der übrigen Industrie 58,5 Fmk. Eine Putzfrau hingegen bekommt nur 32,3 Fmk die Stunde, eine Verkäuferin nicht viel mehr.
Bei der Lebenshaltung des Mittelstandes wirkt sich die hohe steuerliche Belastung aus: Obwohl die Bruttogehälter annähernd gleich sind, stehen in Finnland jedem Bürger jährlich für den Konsum 9.643
US-Dollar zur Verfügung, in Österreich hingegen 11.477.
Wie weit beeinträchtigt nun das Wohlfahrtssystem das Leistungsdenken? Sicherlich gibt es Menschen, die, gestützt auf das Sozialsystem, keine oder nur eine verminderte Beschäftigung anstreben. Das ist
aber eine kleine Minderheit. Generell kann man aber nicht sagen, daß sich Wohlfahrtsstaat und Leistungsprinzip ausschließen: Protestantische Arbeitsethik und Arbeitswille sind vielmehr die
Grundlagen dafür, daß jene Werte geschaffen werden können, auf denen das Sozialsystem aufbaut.
(WIRD FORTGESETZT)
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Wendelin Ettmayer ist österreichischer Botschafter in Finnland.