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Leitbilder der Sehnsucht

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Der altösterreichische Plakat-Künstler Anton Reckziegel hat die Tourismus-Werbung der Schweiz nachhaltig geprägt.


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Schöpfer harmonischer Ikonen: Anton Reckziegel.
© Verlag

Reisen ist, mit Kurt Tucholsky gesprochen, die Sehnsucht nach dem Leben. Im Umkehrschluss hieße das: Wir leben nicht, wir existieren nur. Den Takt schlagen andere. Reisen beginnt also mit einem großen Traum: mit dem Traum von Überschreitung des Alltags, seiner Spielregeln, Zeitkorsette und Hie-rarchien. Auf Reisen, so die Wunschvorstellung, ist alles anders: da verwischen die sozialen Grenzen, da regieren Muße, Sinnenfreude, Feierlaune. Ein Ausnahmezustand, in dem Genuss und Abenteuer sich aufs Wundersamste verbinden.

Diese Fantasie speist sich aus Narrativen und Bilderwelten quer durch die Genres und Jahrhunderte, - und wird von einer Branche gezielt (kommerziell) bedient: der Tourismuswerbung. Die Breiten- und Tiefenwirksamkeit ihrer Hochglanzbilder wird längst via Film und Fernsehen, das Internet und die Sozialen Medien erzielt. Daneben hält sich noch das altbewährte Werbe-Medium Katalog.

Das Tourismus-Plakat hingegen ist weitgehend Geschichte. Es hatte sich vor Jahrhunderten aus den öffentlichen Kundmachungen entwickelt. Das Bild verdrängte zunehmend den Text und wurde zum Hauptträger der Werbe-Botschaft. Die technischen Voraussetzungen für die vielfarbigen Großformate bot die Lithografie etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu jener Zeit also, da das Reisen als Selbstzweck langsam an Breite gewann. Ein Massenprogramm war es noch lange nicht.

Eines der ersten Sehnsuchtsziele war die Schweiz. Als ein Pionier ihrer visuellen Reisewerbung gilt der Altösterreicher Anton Reckziegel. Seine Kunstplakate haben das touristische Schweiz-Bild nachhaltig geprägt. Auf sein Schaffen kommen wir noch ausführlich zu sprechen.

Befeuert wurde der Schweiz-Hype unter Europas Reisenden zunächst aber nicht durch Werbe-Plakate, sondern durch die Literatur, u.a. das Monumentalgedicht "Die Alpen" des Zürcher Gelehrten Albrecht von Haller (1729) und den Briefroman "Julie oder die Neue Héloïse" des Genfer Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau (1761). Haller idealisiert das Bergvolk und stilisiert die Alpen zu mythischen Hochlagen des Widerstands-/Nationalgeistes. Das war eine unverhohlene Kritik an der Feudalherrschaft. (Die Helvetische Republik wurde erst 1798, nach vielen Aufständen gegen die Herrschenden, gegründet). Hallers Poem weckte die Neugier auf diesen Hort der Freiheit - und auf die spektakuläre Hochgebirgsnatur.

Auch Rousseaus Briefroman "Julie oder die Neue Héloïse" feiert die alpine Urkraft; die Hauptbühne des Liebesdramas zwischen dem bürgerlichen Hauslehrer Saint-Preux und der adeligen Julie d’Étanges aber bildet der Genfersee. Das Buch wurde ein Bestseller, seine Schauplätze zu Pilgerzielen der empfindsamen Reise-Elite. Selbst den Geheimrat aus Weimar fasste es dort ans Gemüt.

Dreimal bereiste Goethe die Schweiz. Er kämpfte sich mehrmals den Gotthardpass hinauf, um zu erahnen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wie untrennbar für ihn auf diesen Touren Schauder und Erhebung beieinander lagen, ist in Adolf Muschgs neuer Erzählung "Der weiße Freitag" nachzulesen.

Neben den Dichtern (und Malern) lenkte bald auch der Alpinismus die Sehnsucht Richtung Alpen; Erstbesteigungen der höchsten Gipfel hatten Signalwirkung (z.B. Jungfrau im Jahr 1811), Sportsgeist und Abenteuerlust obsiegten über die alte Angst vor dem Hochgebirge.

Lange Zeit nur Durchgangsland auf der Grand Tour in den Süden, war die Schweiz nun also selbst zum Reiseziel geworden. Schon um 1830 befuhren Dampfschiffe die großen Seen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschlossen Eisenbahnlinien Region um Region, und kühne Tragseil- bzw. Zahnradbahnen das Hochgebirge. Das Hotelangebot entwickelte sich rasch, erste Grandhotels entstanden. Johannes Badrutt legte 1864 mit seinem luxuriösen Kulm Hotel in Sankt Moritz den Grundstein für den Schweizer Wintertourismus: Er umwarb seine britischen Sommergäste mit einer Wette: Der Moritzer Winterzauber biete stets auch milde Tage; bei Nichtzutreffen übernehme er, Badrutt, die Reisekosten.

Sein Wettbudget blieb unangetastet, die Briten kamen - und blieben bis Ostern. Die Kulturkritik an der Kommerzialisierung der Bergnatur ließ nicht lange auf sich warten: Alphonse Daudet etwa machte die "prunkvolle Karawanserei" Rigi Kulm zur Bühne seiner Satire "Tartarin in den Alpen".

Pionier des Reiseplakats

Ihre Blütezeit erlebten die Grandhotels in der Belle Époque. Genau in diese Zeit fiel auch die Tätigkeit des Plakatkünstlers Anton Reckziegel für den Schweizer Fremdenverkehr. Eine Ausstellung im Alpinen Museum der Schweiz in Bern jüngst und ein prächtiger Begleit-Bildband des Zürcher Verlags Scheidegger & Spieß zur Ausstellung würdigen sein Werk und stellen es in den Kontext der Entwicklungen in Kunst, Drucktechnik und des Tourismusmarketings seiner Zeit. In den Jahren 1893-1909 prägte Reckziegel "die Sprache des jungen Mediums Plakat wie kein Zweiter", erklärt Beat Höchler, Direktor des Alpinen Museums Schweiz, im Vorwort.

Anton Reckziegel wurde am 27. Juli 1865 im böhmischen Gablonz als viertes Kind des Glasschneiders und -druckers Eduard Reckziegel geboren. Schon früh durchkreuzte Antons künstlerisches Talent die Berufspläne der Eltern, wonach er Glasbläser werden sollte: Der Sohn ersparte sich das Los des verhinderten Künstlers, erlernte das Handwerk des Lithografen und besuchte die Gablonzer Kunstgewerbeschule. In der Freizeit aquarellierte er das Hügel- und Gebirgsland der Umgebung. Mit 19 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, einem Kunstmaler, nach Graz, und absolvierte an der Technischen Hochschule eine Ausbildung als Landschaftsmaler.

Nach dem Militärdienst in Bosnien wird Anton Reckziegel in die Kartografie des K.k. Militärgeografischen Instituts Wien einberufen. Trotz Lebensstelle kehrt er lieber zurück nach Graz, wo er für die Lithografische Kunstanstalt Matthey arbeitet. 1893 schließlich übersiedelt er, nunmehr verheiratet mit der Wienerin Anna, in die Schweiz. Er tritt eine Stelle in der Kunstanstalt Müller & Co in Aarau an, wo er Plakat- und Broschürenbilder für die Fremdenverkehrswerbung entwirft. Diese steckt noch in den Kinderschuhen: es mangelt dem Land an versierten Grafikern. Die allerersten Reiseplakate wurden in Paris gedruckt! Reckziegel leistet Pionierarbeit.

Bei den frühen Plakaten steht noch die Orientierungsfunktion im Vordergrund: Sie sind ein Puzzle aus Veduten, Panoramen, Vogelschauen, Symbolen, Allegorien - und Fahrplänen. Reckziegel bezeichnet sich damals offiziell noch als Kunstmaler. Seine Kunst in den Dienst der Werbung zu stellen, war für Maler ebenso "unwürdig" wie für Schriftsteller. Das Künstlerplakat wird noch lange nicht als eigene Kunstform anerkannt, sondern als gewerbliches Erzeugnis.

Moderate Modernität

Bald werden die Bilderfluten in Prospekte ausgelagert, die Plakate auf ein einziges Bild reduziert - und auch im Sammler-tauglichen Kleinformat bzw. als Postkarte aufgelegt. Im Jahr 1898 holt ein Kollege aus Aarau Reckziegel als Chefgrafiker nach Bern in seine Kunstanstalt Hubacher & Cie. Der Altösterreicher setzt nun auf eine moderate Modernität, nimmt Elemente des Jugendstils auf, reduziert die topografische Genauigkeit des Landschaftsbildes zugunsten von Atmosphäre. Er erwirbt schweizweit einen hervorragenden Ruf als "Maître d’affiche", wie man Plakatkünstler nannte. Modisch-elegante Reisende (auch beim Sport - eine Motiv-Premiere!), Grandhotels, Dampfschiffe und -eisenbahnen dominieren seine Bilder.

Reckziegel etabliert sich auch als selbstständiger Kunst- und Plakatmaler, arbeitet u.a. für die Norwegischen Staatsbahnen (Wandbild für den Bahnhof Oslo). 1907 sind seine Werke in einer großen Personale in Genf zu sehen. Doch dem Kunst-Plakat erwächst Konkurrenz durch die Fotografie; das lithografische Kunstgewerbe gerät in die Krise. Reckziegel kehrt 1909 nach Wien zurück und entwirft Postkarten für den Deutschen Schulverein. Alsdann übersiedelt er nach Mödling, wo er bis zu seinem Tod am 18. Oktober 1936 als Landschaftsmaler und Illustrator tätig ist. Sein Blick auf die Schweiz hat Leitbilder der Sehnsucht geschaffen, die lange nachwirkten.

Tourismusverband

Ab 1910 prägt eine junge Grafikergeneration die Reisewerbung. Ihr Plakatstil ist von Ferdinand Hodlers ornamental-reduzierter Landschaftsästhetik geprägt. Emil Cardinaux heißt einer der neuen Meister. Auf seine Bildsprache setzt auch die 1917 gegründete Schweizerische Verkehrszentrale (seit 1995 "Schweiz Tourismus"). Zwei Ausstellungen begleiten das heurige 100-Jahr-Jubiläum der Organisation (siehe Information).

Selbst das Sehnsuchtsziel Schweiz unterliegt dem Einfluss der Zeitläufte - und reagiert mit gezielter Zusatz-Werbung. In den 1930ern etwa bot das Land, unter der Image-Last der "Hochpreisinsel", Billigbenzin für Touristen und Reduktionen für Flitterwöchner.

1945-47 lud man GI’s zur Erholung ein, schickte Bilder der Soldaten vor Uhrengeschäften oder auf Tourenskis um die Welt und erzielte damit einen riesigen PR-Erfolg. In den von der Erdölkrise geprägten 1970ern wiederum umwarb man den qualitätsbewussten Individualtouristen. 2015 löste die Aufhebung des Euro-Mindestkurses eine nächste Offensive aus: Schweizer Prominenz erzählte ihre Urlaubserlebnisse unter "#Verliebt in die Schweiz"; dazu gab es attraktive Angebote. Zudem bieten insbesondere die Schweizer Alpen höchst werbewirksame Filmkulissen: mit Bergsteigerdramen, dem Bond-Dreh auf dem Schilthorn, indischen Bollywood-Filmen und chinesischen Seifenopern erreichte man ein Millionen-Publikum.

Der Schweizer Tourismus ist einer der größten Arbeitgeber des Landes, erwirtschaftete 2014 2,6 Prozent des BIP. Sein Gipfel-Marketing treibt übrigens mitunter wundersame Blüten. So wurde auf der Rigi im Jahr 2015 ein Felsblock aus China aufgestellt - als Magnet für Touristen aus dem Reich der Mitte. Neue Zeiten, neue Bilder.

Ausstellungen:
"Macht Ferien!" Schweizer Tourismuswerbung (Plakate, Fotografien, Filme). November 2017 bis Juni 2018 im Verkehrshaus Luzern.
"Fremdvertraut. Außensichten auf die Schweiz". Das Land als Quelle der Inspiration für international renommierte Fotografen. 25. 10. 2017 - 7. 1. 2018, Musée de L’Élysée, Lausanne.

Bildband:
Urs Kneubühl/Agathon Aerni (Hrsg.): "Reklamekunst und Reiseträume. Anton Reckziegel und die Frühzeit des Tourismusplakats". Scheidegger & Spiess, Zürich 2017, 160 Seiten, 58,- Euro.

Schweiz Tourismus:
www.myswitzerland.com

Ingeborg Waldinger, Romanistin und Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der Wiener Zeitung und literarische Übersetzerin.