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Leitkultur-Debatte in Deutschland

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv

Spekulationen und Koalitionspoker. | Diadochen-Kämpfe in Bayern um Stoiber-Erbe. | Berlin. Haben drei türkische Brüder ihre 23-jährige Schwester Hatun an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof durch drei Kopfschüsse getötet, weil sie keinen Schleier trug und einen "westlichen" Lebensstil führte? Der gerade laufende Prozess, der diese Frage nach dem "Ehrenmord" an der jungen Türkin mitten in Berlin klären soll, lässt zurzeit einige Multi-Kulti-Träume platzen.


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In Deutschland leben ungefähr so viele Ausländer wie Österreich Einwohner hat. Die Frage, nach welchen Werten sie leben, an welche Gesetze und Spielregeln sie sich halten, ist angesichts dieser hohen Zahl, aber auch angesichts des Terrorismus und solcher "Ehrenmorde" nicht unerheblich.

"Ohne Leitkultur im Sinne allgemein akzeptierter Überzeugungen gibt es keinen Konsens", sagt der neue Bundestagpräsident Norbert Lammert und greift damit gleich am Beginn seiner Amtszeit eine Debatte auf, die bereits Ende der 90er Jahre für heftige Kontroversen gesorgt hatte. Seine Gegner denunzierten den Begriff sofort als "deutschtümelnd". Es habe eine breite, reflexartige Ablehnung des Begriffs gegeben, meint Lammert, "obwohl es eine ebenso breite Zustimmung für das gab, worum es in der Debatte ging." Es sei eine Binsenweisheit, dass es in jeder Gesellschaft Überzeugungen geben müsse, die möglichst breit verankert seien.

Nur noch drei Wochen für eine Koalitionsbildung

Genau darum ringen auch die rund dreißig Unterhändler, die abwechselnd im Willy-Brandt- und im Konrad-Adenauer-Haus einen Grundkonsens zwischen Schwarz und Rot herstellen wollen, ja müssen. Nach dem politischen Fahrplan haben sie dafür noch drei Wochen Zeit.

Je dichter die Mauer des Schweigens, desto heftiger die Spekulation. Nur hin und wieder werden die Mutmaßungen durch gezielte Indiskretionen genährt, ohne überprüft werden zu können. Die SPD hatte ja bereits im Wahlkampf den Schröder-Kurs der "Neuen Mitte" verlassen und mit der "Heuschrecken-Debatte", der Reichensteuer und dem strikten Festhalten an Flächentarifen wieder einen strammen Linkskurs gesteuert - mit dem Schreckgespenst Lafontaine und Linkspartei im Rücken.

Folgerichtig hat sie auch während der Koalitionsverhandlungen größtes Interesse daran, dass alles, was durch die Polstertüren dringt, sie im Licht der "Hüterin sozialer Gerechtigkeit" zeigt. Geschickt hat die Union darauf reagiert, indem sie zunächst von ihrer Forderung nach einer höheren Mehrwertsteuer abrückte, wenn die SPD einen Vorschlag mache, wie man auch ohne sie die Lohnnebenkosten senken könne.

Andererseits scheint Angela Merkel bei ihrer Linie der "harten Ehrlichkeit" zu bleiben. Gestern kündigte sie an, dass sich die Rentner abermals auf eine Nullrunde würden einstellen müssen. Bisher erfolgte noch keine Reaktion der anderen Seite.

Geplänkel gibt es auch um die künftige Rolle der Bundeswehr. Der designierte Verteidigungsminister Jung will, wie die gesamte Union, die Bundeswehr auch im Inneren des Landes einsetzen, wenn es um den Kampf gegen den Terrorismus geht. Die SPD lehnt dies nach wie vor ab. Wie vehement, wird man allerdings erst in drei Wochen sehen.

Ein Kompromiss zeichnet sich in der Atompolitik ab. Ohne das Atomausstiegsgesetz ändern zu müssen, könnte man ältere Kraftwerke länger laufen lassen, wenn dafür die Restlaufzeit von jüngeren Anlagen gekürzt wird.

Das Postengerangel reißt hingegen nicht ab. Die Debatte kreist derzeit um drei Positionen: Den Stellvertretenden Bundestagspräsidenten - der der Linkspartei zustünde, die Position eines Kulturstaatsministers im Bundeskanzleramt und um den Nachfolger Stoibers in München.

Lothar Bisky, als Informeller Mitarbeiter der Stasi unter dem Tarnnamen "Bienert" geführt, will wohl bei der nächsten Bundestagssitzung zum vierten Mal zur Wahl antreten. Andeutungen von Parteichef Gysi lassen jedoch darauf schließen, dass die Linke nach einer erneuten Schlappe eine konsensfähige Kandidatin präsentieren wird.

Ob auch das Kabinett Merkel einen Bundes-Kulturminister erhält, wo Kultur doch Ländersache ist, bleibt vorerst offen. Sollte die Position nachbesetzt werden, gilt die Berliner Abgeordnete Monika Grütters als heiße Favoritin. Ebenfalls ungeklärt ist, welchem Ministerium der Bereich "Forschung" zugeschlagen wird: Dem Bildungsministerium unter Annette Schavan (CDU) oder dem Wirtschafts- und Technologie-Mega-Ressort Stoibers (CSU).

Der Machtkampf ist in Bayern voll entbrannt

Derweilen rüsten die bayerischen Diadochen Erwin Huber (Staatskanzlei) und Günther Beckstein (Innenminister) zum Kampf um das Stoiber-Erbe an der Isar. Die Landtagsfraktion mag lieber den Innenminister aus Franken, Stoiber wird trotz erklärter Neutralität ein leichtes Prae für Huber nachgesagt. Auch wenn Beckstein unter Huber nicht dienen mag und dann lieber an die Spree wechselt, um sein Bundestagsmandat auszufüllen, gelobten beide größte Fairness. - Die neue Leitkultur des Konsenses.