Russland ist eines der wenigen Länder, in denen sich das Aids-Virus wieder ausbreitet. Doch nicht alle Infizierten kennen ihre Diagnose und lassen sich richtig behandeln.
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Jekaterinburg. Als sie die Diagnose erfuhr, war sie gerade schwanger. Noch lange klangen die Worte nach, selbst dann, als Lena das Besprechungszimmer längst verlassen hatte. "Sie haben HIV", hatte die Ärztin zu ihr gesagt. "In fünf Jahren werden Sie sterben. Und Ihre Tochter auch." Heute noch sagt sie die Sätze auf, ungläubig, als hätten sie eigentlich nichts mit ihr zu tun. Lena ist ein lebensfroher Mensch, der sich kaum Kummer oder Gram anmerken lässt. Es war eines der ganz seltenen Momente, in denen sie in Tränen ausbrach.
Das war 2002. Doch heute ist 2016, und die 43-Jährige Lena lebt. Pinker Lippenstift, das blonde Haar zu einem Zopf gebunden, und ein Lachen, das ansteckt. "Und seht euch meine Tochter an", sagt sie, und weist auf Mascha, eine junge Frau. Langes, walnussbraunes Haar, schüchternes Lächeln. Vor wenigen Tagen ist sie 14 Jahre alt geworden, aber schon jetzt ist sie fast größer als ihre Mutter. Lena hebt den Zeigefinger, wie zur Mahnung. "Wir habe nicht vor, so bald zu sterben!"
Lena lebt in Kirowgrad. In der 30.000-Einwohner-Stadt, eine Autostunde von Jekaterinburg, ist jeder 25. Bewohner mit dem Virus infiziert. Lena hat sich damals wohl bei ihrem Mann angesteckt. Woher er das hatte? Das kann Lena bis heute nicht genau sagen. Jedenfalls hat sie sich noch in der Schwangerschaft von ihm getrennt. Heute ist sie alleinerziehende Mutter von fünf Kindern. Drei leibliche Kinder - und die zwei Töchter ihrer Schwester. Sie ist drogensüchtig und kann sich nicht um die Kinder kümmern. Auch sie auch HIV.
Zahl der HIV-Infizierten hat sich seit 2011 verdoppelt
Insgesamt mehr als eine Million Bürger ist in Russland mit HIV infiziert, eine Zahl, die sich seit 2011 verdoppelt hat. Russland gilt als eines der wenigen Länder der Welt, in dem sich HIV ausbreitet. Und das rasant: Im Jahr 2015 haben sich 95.000 Russen neu infiziert - so viele wie noch nie seit dem Beginn der Krankheit. Das Gesundheitsministerium warnt, dass sich diese Zahl bis 2020 mehr als verdoppeln könnte - auf 2,5 Millionen HIV-Infizierte in ganz Russland.
Doch das sind nur die offiziellen Zahlen. Jekaterinburg, die Millionenstadt am Ural, hat schon als HIV-Hauptstadt Russlands traurige Berühmtheit erlangt. In einem unscheinbaren Hinterhof, hinter einer vereisten Zufahrt, sitzt Marina Chalidowa in ihrem Büro. Nur ein kleines Schild weist darauf hin: der Sitz der NGO "Nowoje Wremja" (zu Deutsch: "Neue Zeit"). Chalidowa, eine studierte Ärztin und Psychotherapeutin, hat das Zentrum 1998 gemeinsam mit anderen Ärzten gegründet. Frauen und Kinder mit HIV werden hier psychologisch betreut und mit ihrer Diagnose versöhnt. Hier können sie darüber sprechen, worüber sie sonst schweigen. HIV ist in Russland stark tabuisiert: Erst im letzten Jahr ging mit dem TV-Moderator Pawel Lobkow der erste russische Prominente mit seiner Diagnose an die Öffentlichkeit.
"Direkt vor meinen Augen hat sich diese Epidemie ausgebreitet", sagt Chalidowa. Vom Beginn, als sich fast nur Drogensüchtige über den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen angesteckt haben, bis zum "generalisierenden Stadium", das schon alle sozialen Schichten betrifft, auch Schwangere und Kinder. Fast zwei Jahrzehnte, in denen das HI-Virus aus dem Drogenmilieu in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Sie schätzt, dass die "verborgene Epidemie" - also die nicht-registrierten Fälle - noch dreimal höher sind als die offiziellen Zahlen.
Mangelnde medizinische Versorgung
Zwar können mit Medikamenten, der sogenannten "antiretroviralen Therapie", die HIV-Infizierten ein relativ gutes Leben führen, so wie Lena und Mascha. Doch längst nicht alle mit einer HIV-Diagnose sind in Therapie - russlandweit sind es mit knapp 200.000 nur ein Bruchteil der Erkrankten. Gegenüber dem Vorjahr hat der russische Staat die Versorgung um weitere 50.000 Personen gekürzt. Experten befürchten, dass sich die Versorgung infolge der Wirtschaftskrise in Russland noch verschlechtern könnte. Doch das ist längst nicht das einzige Problem.
Natalja sitzt auf ihrem Hocker, tippt in ihr Tablet und schüttelt immer wieder den Kopf. Ihre Tochter Anschelka, eine schlanke Frau Anfang 20, dreht sich gerade vor dem Spiegel die Locken, ihr Blick ist trübe. Mutter und Tochter teilen sich ein Zimmer in einem Wohnheim, am Gang schrubbt eine Putzfrau den Boden. Anschelka ist HIV-positiv. Alle Drogen hat sie durchprobiert und sich auch gespritzt, erzählt sie freimütig. Vor zwei Jahren brachte sie eine HIV-positive Tochter auf die Welt. Seit einigen Monaten nehmen weder sie selbst noch ihre Tochter die Medikamente ein. Das zeigen zumindest die Laborwerte. Geschlagene eineinhalb Stunden redet Chalidowa auf die beiden ein, doch sie erntet nur bohrende Fragen und verständnislose Blicke. Natalja hat im Internet von einem großen Medizin-Experiment gelesen, das derzeit in Russland im Gange sei. Sie hat ihrer Tochter geraten, die Therapie abzubrechen.
Vor allem im Drogenmilieu ist die Skepsis gegenüber der Therapie einer Krankheit, die man jahrelang nicht spürt und nicht bemerkt, groß. Oft haben Chalidowas Mitarbeiter Mühen, überhaupt zu den Menschen vorzudringen. Zuletzt hat sich in Jekaterinburg sogar eine Gruppe von so genannten "Aids-Dissidenten" gebildet. Menschen, die die Existenz von HIV und Aids leugnen.
"Informationskrieggegen Russland"
Das sind zwar die absoluten Härtefälle. Aber der russische Staat selbst trägt wenig zur Aufklärung bei. Erst vor wenigen Monaten wurde Tamara Gusenkowa, die Vize-Direktorin des Russischen Institut für Strategische Studien, bei der Präsentation eines Grundlagenpapiers zur HIV-Infektion mit den Worten zitiert, dass "das HIV- und Aids-Problem als Element des Informationskrieges gegen Russland eingesetzt wird". Des Weiteren wurde die "Verhütungsmittel-Industrie" für das Problem verantwortlich gemacht. Auch die russisch-orthodoxe Kirche arbeitet sich am HIV-Problem ab: Immerhin hätten jene Russen, die nach einem christlichen Moralkodex - also in einer monogamen Partnerschaft ohne vorehelichen Sex - leben, nichts zu befürchten, während HIV-Aufklärung an den Schulen als Propaganda frühkindlicher Sexualisierung abgetan wird.
Dass sich HIV so stark in Russland ausbreiten konnte, liegt aber auch an einer umstrittenen Anti-Drogen-Politik. Noch immer stecken sich 60 Prozent der Neuinfizierten über Drogeninjektionen an - eine Form, die vor allem in Jekaterinburg sehr verbreitet ist, wo schon früh mit Drogen experimentiert wurde. Experten kritisieren, dass die Situation durch Spritzentauschprogramme sowie Drogenersatztherapien maßgeblich verbessert werden könnte. Doch Methadon ist in Russland seit 1997 verboten. Ein Teufelskreis: Statt zu therapieren, werden Drogensüchtige wegen kleiner Delikte in die Gefängnisse gesperrt, die ohnehin als Hort von HIV gelten. Zudem stecken sich HIV-Erkrankte leichter mit Tuberkulose an, zuletzt haben Experten sogar vor einer "Syndemie" gewarnt. Positive Signale auf höchster Ebene vermeint zumindest Vinay Saldanha, Regionalchef der UN-Organisation zur Bekämpfung von Aids, zu vernehmen. Dieser Tage hat das russische Gesundheitsministerium ein HIV/Aids-Forum in Moskau veranstaltet, unter Vorsitz von Swetlana Medwedewa, der Frau des Ministerpräsidenten. "So eine starke Mobilisierung für das HIV-Thema auf höchster Ebene haben wir in Russland noch nie gesehen", sagt Saldanha der "Wiener Zeitung".
Schikanen gegen Hilfsorganisationen
Chalidowa ist da allerdings skeptisch. Zu oft wurde versprochen, geredet, verhandelt. Aber an der Lage in Jekaterinburg hat sich seither nichts verändert. Im Gegenteil: Zuletzt hat der Staat jene NGOs, die Prävention und Unterstützung leisten, schikaniert. Die Stiftung Andrej Rylkow, die in Moskau ein Programm zum Spritzentausch organisiert, wurde zuletzt auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt. Auch Chalidowas NGO in Jekaterinburg könnte die Nächste sein, sie ist von finanzieller Unterstützung aus dem Ausland, wie der deutschen Organisation "Brot für die Welt", angewiesen. Solange der Staat die Problemgruppen nicht direkt anspricht, sondern ignoriert oder einsperrt, werde sich die Krankheit weiter ausbreiten, sagt sie. "Es ist schwer, zuzusehen, wie das Land stirbt."
Zumindest bei Mascha und Lena hat die Therapie gut angeschlagen. Die Immunitätswerte sind gut, die Nebenwirkungen gering. Die 14-jährige Mascha ist kräftig, macht gerne Sport und liebt es, zu tanzen. Zuletzt haben Mutter und Tochter sogar gemeinsam ein Home-Video gedreht. Mascha in einem weißen Kostüm, blutüberströmt, eine Art russische Zombie-Apokalypse im Birkenwald. Doch am Ende verwandelt sie sich in eine Sportlerin. Demnächst wird Mascha das Video bei einer HIV-Konferenz in Bukarest vorstellen.
"Wenn du nicht so aussehen möchtest, musst du ein gesundes Leben führen", heißt es aus dem Off. "Denn immerhin ist jeder für sich selbst verantwortlich", setzt Lena hinzu.